Prof. Juha Pentikainen und Marja Pentikainen – Die Scientology Kirche

Dieser Bericht über die Scientology-Kirche wurde gemeinsam von einem Religionsgelehrten und einer Sozialarbeiterin und Wissenschaftlerin verfaßt. Das Hauptaugenmerk richtet sich dabei auf den Hintergrund, die Geschichte und die gegenwärtige Stellung der Scientology-Kirche. Die im nachfolgenden zu beantwortende Hauptfrage bezieht sich auf die Rolle und den möglichen Status der Scientology als eine „Religion“: Ist Scientology eine Religion oder nicht?

Die Geschichte der Scientology ist kurz. Als Anfang der Scientology kann man entweder die Veröffentlichung des von L. Ron Hubbard verfaßten Buches Dianetics: The Modern Science of Mental Health (1950) betrachten oder die Gründung der ersten Scientology-Kirche in Los Angeles, Kalifornien, im Jahre 1954. Beide Zeitpunkte hängen natürlich mit dem Werk und der Lebensgeschichte von Hubbard selbst (1911-1986) zusammen, der auch Gründer genannt wird, da er es war, der die Prinzipien der Dianetik geschaffen und die Lehrsätze der Scientology festgelegt hat.

Die Tatsache, daß die Wurzeln der Kirche in Amerika liegen, hat ihr einige kulturelle Aspekte mitgegeben, die ihr eigen sind. So ist zum Beispiel ihre Muttersprache Englisch und ihr Lifestyle so typisch amerikanisch, daß dies zeitweise bei den Bemühungen hinderlich war, tiefer in andere Kulturen vorzudringen, in denen andere Sprachen gesprochen werden. Trotzdem ist die gegenwärtige Verbreitung der Scientology-Kirche bemerkenswert ­ auch in den Ländern außerhalb der westlichen Welt.

Nach einem Bericht des Präsidenten der Kirche aus dem Jahre 1994 hat sich die Kirche in den vergangenen 40 Jahren in allen Kontinenten und in mehr als 107 Ländern niedergelassen. Zu diesem Zeitpunkt bezifferte sich die Anzahl der bestehenden Organisationen ­ entweder eine Kirche, eine Mission oder eine organisierte Gruppe von praktizierenden Leuten ­ auf 2318, mit steigender Tendenz.

Besonders bemerkenswert war das Wachstum in Ost- und Mitteleuropa sowie in den Gebieten der früheren Sowjetunion, von Moskau und St. Petersburg bis zur Ukraine, Kasachstan, Moldawien und bis hin nach Sibirien: 21 neue Missionen im Jahr 1994 und 24 im Jahr 1995. Ungarn bildet mit über 10 Missionen einen weiteren Mittelpunkt in Osteuropa. Mit steigender Tendenz auch in solch abgelegenen Gebieten wie China, Australien, Neuseeland, Afrika und Lateinamerika nähert sich die Scientology-Kirche zumindest geographisch einer globalen Ausbreitung.

Die Gesamtzahl der praktizierenden Scientologen oder Gemeindemitglieder beläuft sich auf Millionen. Aufgrund der besonderen Natur der Kirche, die neben einem Platz für religiöse Rituale auch einen Arbeitsplatz und einen komplexen sozialen Mittelpunkt für Anhänger wie Interessenten bietet, ohne deren vollzeitige Hingabe zu fordern, ist es allerdings schwierig, genaue Zahlen zu nennen. Dies ist typisch bei vielen religiösen Bekenntnissen.

Nach Angaben der Church of Scientology International aus dem Jahre 1994 belief sich die weltweite Anzahl der Scientologen zu diesem Zeitpunkt auf circa 8 Millionen.

1. Zum Religionsbegriff

Das akademische Studium der Religionen begann in der westlichen Welt im frühen 19. Jahrhundert, inspiriert durch die Denkmodelle der Philosophen des Zeitalters der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Als von Entdeckern und Missionaren neue Informationen über sehr alte Religionstraditionen (besonders über die Philosophien Indiens und des Fernen Ostens) nach Europa in die Gelehrtenkreise getragen wurden, mußte die gängige Definition des Religionsbegriffs neu bestimmt werden.

Der Begriff, der bis zu diesem Zeitpunkt nur das Christentum und das Judentum ­ und hin und wieder auch den Islam ­ einschloß, erstreckte sich bald auch auf solch östliche religiöse Philosophien wie Hinduismus, Buddhismus, Konfuzianismus, Taoismus, Shintoismus, Zoroastrismus usw. Das neue Lehrfach, „Religionsgeschichte“ oder „vergleichende Religionswissenschaft“ genannt, bekam in seinen Ansätzen eine allgemeine und eine vergleichende Natur.

Als einer seiner Hauptzweige deutete die Phänomenologie der Religion auf eine solche Verschiedenheit auf dem Gebiet hin, daß sich die Religionsgelehrten schwer taten, eine präzise Definition vorzulegen, die gleichzeitig das Wesentlichste über die Religiosität selbst enthält und für jede beliebige Religion der Welt gilt, sei sie geschrieben oder mündlich überliefert. Eine der vielen Bemühungen, Religion zu definieren, basierte auf dem Kriterium der begrifflichen Vorstellung eines „Gottes“ oder einer „Gottheit“, bis die Gelehrten feststellten, daß der Buddhismus als eine der sogenannten Weltreligionen versuchte ­ zumindest in der Theorie­, sein spezielles Etikett als eine „atheistische“ Religion hervorzuheben.

Der enge Begriff der Religion, der oft mehr durch offizielle Regierungsvertreter als durch Religionsgelehrte geprägt wird, muß in der modernen Welt neu überdacht werden. Das Wort „Religion“, das sich in der einen oder anderen Form in den meisten europäischen, d. h. germanischen, romanischen und slawischen Sprachen findet, stammt von dem lateinischen Wort „religio“ ab. Dieser Begriff schließt insbesondere den Gedanken ein, von etwas „Göttlichem“ abhängig zu sein. Das lateinische Prinzip „cuius regio eius religio“ bedeutete daher, daß der Herrscher oder ein Fürst seit dem 16. Jahrhundert im Europa der Nach-Reformation die Macht hatte, zu entscheiden, an was seine Landsleute glauben und wie sie sich verhalten sollten. Das gesamte Problem der Existenz göttlicher oder sozialer „Bindungen“ dieser Art ist jedoch ein sehr westliches, und der Gedanke an sich ist in Wirklichkeit vielen Kulturen der Welt völlig fremd.

Diese Art von westlicher Auffassung der Religion kann daher nur mit Gewalt auf die alten östlichen religionsphilosophischen Traditionen angewandt werden. Es wurde sogar geäußert, daß die drei Hauptvarianten der chinesischen Weltansichten ­ Taoismus, Konfuzianismus und Buddhismus ­ gar keine Religionen im westlichen Sinne des Begriffs sind, sondern vielmehr „drei Taos“ oder „Wege“ zu einem Ziel, dem Prinzip der Harmonie zwischen Yin und Yang.

Mit anderen Worten, es gibt viele Kulturen in der Welt, die trotz der Tatsache, daß sie in ihren jeweiligen Sprachen ohne „religio“-bezogene Vorstellungen ausgekommen sind, sehr religiös zu sein scheinen. Dies trifft insbesondere auf die nördlichen Kulturen in der alten und der neuen Welt zu, in denen wir praktisch tätig waren: Es werden animistische und schamanistische Rituale praktiziert, ohne sie als Religionen zu bezeichnen. Als typisches Beispiel dafür läßt sich die Aussage einer Nanay-Schamanin des Gebiets am unteren Amur im südöstlichen Sibirien anführen, die uns gegenüber 1994 gemacht wurde: „Christentum ­ das ist russisch. Wir haben nur unsere Schamanen“.

Ein weiteres aktuelles Problem hat mit der Rolle der vielen gegenwärtigen funktionellen Alternativen zur Religion zu tun. Die neueste Weltgeschichte zeigt, daß die mit Kommunismus, Marxismus und Maoismus unternommenen Bemühungen, einen „nicht-religiösen“ Staat bzw. eine „nicht-religiöse“ Gesellschaft zu bilden, nicht sehr erfolgreich waren. Es hat sich gezeigt, daß der menschliche Verstand ganz eindeutig mehr an religiösen Angelegenheiten interessiert ist, als es bei den vorstehenden oder anderen materialistischen und anthropozentrischen Ideologien, die im vergangenen wie auch in diesem Jahrhundert aufkamen, angenommen wurde.

2. Die fünf Dimensionen von Religion

„Es gibt keine einzelne eindeutige Definition von Religion, die allgemein von Gelehrten akzeptiert wird.“ Weil wir diese Aussage von Bryan Ronald Wilson und anderen teilen, ziehen wir es vor, im folgenden statt einer allgemeinen Definition die Hauptfaktoren der Religion zu artikulieren. Es scheint möglich, das Phänomen, das allgemein „Religion“ genannt wird, von fünf verschiedenen Standpunkten her anzugehen, die sich in allen der entweder literarisch gebildeten oder primitiven Gesellschaften finden, die bisher untersucht werden konnten. Dieses vergleichende religionsphänomenologische Modell wurde im Detail und in praktischer Anwendung in Juha Pentikainens Monographie „Oral Repertoire and World View“ (Academia Scientiarum Fennica, FFC Nr. 219, Helsinki 1978) vorgestellt:

1. Die kognitive Dimension der Religion umfaßt die wissentlichen, intellektuellen Faktoren wie zum Beispiel ihre Ansicht über das Universum und die Welt, ihr Wertesystem, ihren Glauben an die Existenz des „Übernatürlichen“, d. h. an einen Gott oder an mehrere Götter oder andere „supranormale“ Figuren und Kräfte, die über ihr Schicksal, ihre Bedürfnisse und ihre Werte wachen sollen. Es ist typisch für Religionen, daß sie durch Traditionen übermittelt werden, die von Generation zu Generation oder von Volk zu Volk weitergereicht werden, einschließlich Erzählungen, Mythologien und einschließlich des Glaubens an das „Andere“.

Was ihre Quellen betrifft, so muß hauptsächlich zwischen den schriftlich niedergelegten und den ungeschriebenen Religionen unterschieden werden. Aber egal ob es sich um mündlich überlieferte Mythologien der Kulturen ohne Schrift handelt, um die hochschematisierte theologische Dogmatik der kanonischen Texte der „Buchreligionen“ oder den Korpus der religiösen Philosophien ­ sie alle weisen diese Dimension der Religion auf. Sie wurde oft in kurz formulierten „Glaubensbekenntnissen“ ausgedrückt, die von den Anhängern in den missionarischen Tätigkeiten solcher bewußt missionarischen Religionen wie insbesondere dem Christentum, dem Islam und dem Buddhismus öffentlich bekannt wurden.

2. Die affektive oder emotionale Ebene bezieht sich auf religiöse Gefühle, Einstellungen und Erfahrungen. Der Mensch fühlt normalerweise, daß er von etwas Übernatürlichem abhängig ist und fühlt sich diesem gleichzeitig verbunden. Eine religiöse Erfahrung ist ein Zustand des Zusammenwirkens des Natürlichen und des Übernatürlichen, ein Zustand, in dem eine religiöse Person oder eine durch ihn arbeitende Tradition eine Begegnung mit einer der übernatürlichen Figuren oder Kräfte aktualisiert, die seinen/ihren religiösen Glauben beherrschen.

3. Der instinktive oder verhaltensmäßige Aspekt der Religion findet sich auf der Betätigungsebene in Form eines Verhaltens. Hierbei handelt es sich um die Riten, sozialen Bräuche wie z. B. Opfer, Gebete, Zauberformeln und Anrufungen, mit denen ein Individuum, eine Gruppe oder eine Gesellschaft durch traditionelle Methoden eine Art spirituelle Gemeinschaft oder Verbindung zu ihren übernatürlichen Kräften herstellen kann.

Ein weiterer wichtiger Teil der instinktiven Dimension hängt mit der Moral zusammen. Außer Ritualen und Kulten setzen die Religionen normalerweise ein bestimmtes ethisches Verhalten voraus. Dieses Verhalten manifestiert sich z. B. in der Einhaltung bestimmter Normen, damit die aufrechterhaltenen Werte erreicht, die von der Religion versprochenen Belohnungen erlangt und mögliche Bestrafungen wegen Verletzungen der Normen und Tabus vermieden werden.

4. Der soziale Faktor stellt einen fundamentalen Teil jeder Religion dar. Religion setzt normalerweise die Existenz einer Gruppe oder Gesellschaft voraus, deren Aufgabe es ist, über die religiösen Ansichten ihrer Anhänger zu wachen, verschiedene Aufgaben gemeinsam auszuführen und auch das kultische und ethische Verhalten der Gläubigen zu kontrollieren.

Die Mitglieder dieser Gesellschaften arbeiten normalerweise auf einer breiteren Ebene, manchmal sogar als ein Staat oder in kleineren Gruppen zusammen, um die ihnen durch die gemeinsame Religion auferlegten gemeinsamen Ziele zu erreichen ­ entweder in dieser Welt oder in „der anderen“. Obwohl das religiöse Verhalten auch heute sehr gemeinschaftsbezogen und überwacht verläuft, scheinen die streng etablierten Religionen viel von ihrer früheren Wichtigkeit zu verlieren. Statt dessen wird die Privatsphäre einer unbewußten und nicht etablierten Religiosität betont, und viele der Funktionen der etablierten Kirchen werden deshalb durch weniger formelle Kulte ersetzt.

5. Die kulturelle Ebene ist ein oft vernachlässigter, aber sehr einflußreicher und umfassender Faktor jeder Religion. Sie manifestiert sich im wesentlichen in der Abhängigkeit der Religion von Zeit und Raum, von dem ökologischen, sozialen und kulturellen Umfeld, in dem die jeweilige Religion praktiziert wird.

Die beiden wichtigsten Variablen der „Religion als Kultur“ sind Sprache und ethnische Abstammung. Hier muß insbesondere die Tatsache beachtet werden, daß „Religion“ für viele Leute mehr „eine besondere Lebensweise“ oder ein „Lifestyle“ bedeutet als ein dogmatisches Bekenntnis oder die Abhängigkeit von einem Glaubensbekenntnis. In der modernen Welt gewannen die bewußten nationalen, ethnischen und regionalen Variablen selbst der sogenannten „Weltreligionen“ an Bedeutung, nachdem Menschen nach Abwanderung in ein neues Milieu als Flüchtlinge in ihren neuen Gastländern und Umfeldern oder nach Abwanderung aus ländlichen Gemeinschaften in die Stadtwelt ­ als Immigranten in den Straßen und Ghettos der Metropolen der Dritten Welt ­ ihre religiöse und sozio-kulturelle Identität wiedergefunden hatten.

Der aus unseren Betrachtungen gezogene Schluß ist, daß der Begriff der „Religion“ von seinen theoretischen und westlichen Begriffsinhalten befreit werden sollte, anstatt die breite Vielfältigkeit des globalen Phänomens in eine bestimmte Definition hineinzuzwängen, in die sie nicht hineinpaßt.

Wir werden den Hintergrund und die religiöse Doktrin und Praktik der Scientology allgemein beschreiben und uns dann mit der Scientology anhand der fünf von uns beschriebenen Dimensionen der Religion befassen.

3. Der religionsphilosophische Hintergrund der Scientology

Die Visionen der Scientology finden sich in Hubbards weithin bekannten Texten aus den 40er Jahren, besonders jedoch ab 1950, dem Jahr, als sein Bestseller über Dianetik publiziert wurde.

Die spirituelle wie auch die historische Beziehung zwischen Dianetik und Scientology ist so eng, daß man sie als die beiden Seiten einer Münze bezeichnen könnte. Während die Dianetik aber von den griechischen Worten „dia“ (durch) und „nous“ (Seele) herrührt, bedeutet Scientology „Wissen über Wissen“ und verbindet das lateinische Wort „scio“ (zu wissen) mit seinem griechischen Gegenstück „logos“. Während einerseits die Prinzipien der Dianetik als eine Methode veröffentlicht wurden, die sich als „Technologie des Verstandes“ im engeren Sinne darstellte, wurde andererseits betont, daß Scientology eine religiöse Philosophie sei.

Obwohl das englische Wort „science“ von dem gleichen Wort „scio“ abstammt, wäre es gegebenenfalls zur Vermeidung der bestehenden, unnötigen Verwechslung der beiden Worte doch zweckmäßig, einen bewußten Unterschied in deren Betonung zu machen. Eine Lösung wäre gegebenenfalls, das Wort „Scientology“ auf griechische Art und „science“ auf englische Art zu betonen.

Die erste Scientology-Kirche wurde 1954 mit ihrem eigenen, von L. Ron Hubbard formulierten Glaubensbekenntnis gegründet. Das Glaubensbekenntnis zeigt ganz klar auf, daß es sich hier um eine Gemeinschaft handelt, die sich als eine religiöse Gemeinschaft betrachtet. In diesem Glaubensbekenntnis sind die Prinzipien „wir, die wir der Kirche angehören, glauben“ an „gleiche“ und „unveräußerliche Rechte“ für alle Menschen, sowie die Aussage, daß der Mensch „im Grunde gut“ ist und die vier Gebote Gottes, die es dem „Menschen verbieten …“, eingebunden.

In den Lehren der Scientology finden sich Ähnlichkeiten zu solch östlich-monistischen Religionen wie dem Hinduismus, dem Buddhismus und insbesondere dem Taoismus. Es überrascht auch nicht, daß die Handbücher über die scientologischen Zeremonien deren Hintergründe mit der Mythologie solch religiöser Philosophien wie Hinduismus und Buddhismus und mit den Lehren von Aristoteles, Spinoza und des heiligen Thomas von Aquin in Verbindung bringen.

Die Doktrin der Scientology geht davon aus, daß der Mensch auf acht ineinander übergreifenden Bewußtseinsebenen existiert, die in der scientologischen Theologie „Dynamiken“ genannt werden, und auf diesen überleben will. Die speziellen Dynamiken verlaufen vom Menschen selbst zur Familie, zu Gruppen und hinaus in das spirituelle Universum (die Siebte Dynamik) und zum „Höchsten Wesen“ (die Achte Dynamik), das auch Unendlichkeit oder Gott genannt wird. Jede höhere Dynamik schließt alle darunterliegenden Dynamiken ein.

Es gibt in den scientologischen Lehren die begriffliche Vorstellung „Gott“, aber auf eine andere Art als im Judentum, Christentum, Islam und den anderen theistischen Religionen, deren Wurzeln in den religiösen Traditionen des Nahen Ostens liegen. In der Scientology ist Gott die höchste der acht Dynamiken, die das Individuum anstrebt und gänzlich einnehmen und begreifen möchte. In diesem Sinn ist die Vorstellung eines „Gottes“ in den scientologischen Lehren sehr persönlich ­ es wird im Grunde genommen der Person selbst überlassen, sie vollkommen zu definieren.

Die scientologische Doktrin der spirituellen Sphäre wird durch den „Thetan“ dargestellt, die mit den Vorstellungen des frühen und neueren Gnostizismus verwandt ist; es wird davon ausgegangen, daß der Mensch aus Thetan, Verstand und Körper besteht. Das Wort „Thetan“ hat seinen Ursprung in dem griechischen Buchstaben „Theta“ und wird in der Scientology benutzt, um eine Verwechslung mit den früheren Begriffen zu vermeiden, die sich auf „Seele“ beziehen.

Der Weg zum spirituellen Bewußtsein ist in der Scientology das „Auditieren“, das eine der beiden religiösen Kernpraktiken der Religion darstellt. Beim Auditieren wird der Thetan mit steigenden Ebenen von religiösen Diensten angesprochen, die ihm helfen, die traumatischen Erlebnisse seines jetzigen Lebens und seiner vergangenen Leben zu verarbeiten. Durch diese Erlösung erlangt er ein höheres spirituelles Bewußtsein.

Die andere Kernpraktik der Scientology wird Ausbildung genannt, und damit ist das konzentrierte Studium des scientologischen Wissens gemeint ­ Hubbards Schriften, Aufzeichnungen und Filme. Die scientologische Doktrin führt aus, daß die spirituelle Erlösung in diesem Leben nur durch das Praktizieren des Auditierens wie auch der Ausbildung erreicht werden kann.

4. Eine neue „Buchreligion“ auf der Suche nach Orthodoxie

Wie andere etablierte Religionen hat auch die Scientology-Kirche eine ausführliche Sammlung von Schriften und eine komplette Bibliothek mit Texten, Vorträgen und Filmen, die sich alle mit L. Ron Hubbards Forschung und seinen Entdeckungen zur Natur des Menschen und des Geistes befassen. Diese Bibliothek besteht aus zahlreichen Büchern sowie riesigen Enzyklopädiebänden und Tausenden auf Tonband aufgenommenen Vorträgen und ist ein visueller Beweis dafür, daß die Scientology-Kirche als eine „Buchreligion“ angesehen werden muß. Dieser Trend gleicht anderen Weltreligionen wie dem Hinduismus, Buddhismus, Konfuzianismus, Taoismus, Judentum, Zoroastrismus, Christentum und dem Islam, um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Die umfangreiche Sammlung der von L. Ron Hubbard geschriebenen, aufgenommenen und produzierten Texte, Vorträge und Dokumente bildet zugleich die Sammlung der heiligen Schriften der Scientology. Sie bilden die Grundlage für die Bemühungen der praktizierenden Mitglieder der Kirche, oftmals ein Leben lang, diese Schriften zu studieren und auf die Endziele der Dianetik und Scientology hinzuarbeiten, die als die Zustände „Clear“ und „Operierender Thetan“ bezeichnet werden.

Die genehmigten Texte spielen für die Scientologen eine besondere Rolle bei der Übermittlung von Wissen und Traditionen. Sie werden gleichsam als heilig erachtet. Das kontinuierliche Lehrgebäude in diesen Texten wird nicht „Theologie“, sondern „Technologie“ genannt, und diese begriffliche Vorstellung hat in scientologischen Kreisen eine ganz besondere Bedeutung. Hubbard wird als die „Quelle der Technologie“ angesehen, deren Botschaft als so einzigartig und unveränderlich angesehen wird, daß sie von niemandem interpretiert werden kann. Das „spirituelle Erbe“ ist wichtig, aber es ist nicht auf Personen bezogen, wie dies in den meisten christlichen Kirchen der Fall ist, sondern statt dessen auf Bücher; niemand in der Scientology-Kirche kann daher für sich das Recht in Anspruch nehmen, ein „Übermittler“ zu sein, der heute oder später dazu berechtigt ist, Hubbards schriftliche oder mündliche Aussagen zu interpretieren.

Dementsprechend wurde 1982 in Los Angeles, Kalifornien, eine religiöse Gesellschaft namens Religious Technology Center („RTC“) geschaffen, um als „die oberste ekklesiastische Autorität über den Standard und die reine Anwendung der religiösen Technologien L. Ron Hubbards“ zu wachen. Diese Gesellschaft ist das Organ, das für die „Sicherstellung der Reinheit der Religion und der Schriften der Scientology“ verantwortlich zeichnet. Seine Aufgabe besteht nicht darin, Hubbards Texte zu interpretieren, sondern sie zu bewahren.

Die Schaffung von RTC symbolisiert einen klaren Trend zur Orthodoxie, der häufig ein Merkmal der zweiten Generation in der Gründung einer Religion ist. Während der Gründung einer Religion wurde es zum Beispiel bei Doktrinstreitigkeiten oder aus anderen Gründen oft erforderlich, für die Religion einen „Kanon“ aufzustellen, um zwischen der dogmatischen „Essenz“ und den „anderen“ Texten zu unterscheiden und die Botschaft des Propheten und die Reinheit der Doktrin vor ketzerischen und sektiererischen Angriffen zu schützen.

Ein weiterer damit zusammenhängender wichtiger Prozeß ist die Idee der Autorität der Mutterkirche. Die Gründungs-Scientology-Kirche in Washington D.C. war die ursprüngliche Mutterkirche, bis diese Rolle Mitte der sechziger Jahre der Scientology-Kirche in Kalifornien zufiel. Seit der Gründung der Church of Scientology International (CSI) 1981 wurde diese Rolle selbstverständlich dieser neu eingerichteten Körperschaft zuteil, die sich jetzt um alle Scientology-Kirchen von ihrem Hauptsitz in Los Angeles aus kümmert.

5. Die Gebräuche und der Lebensstil von Scientologen

Hubbard wird von seinen Anhängern „Gründer“ genannt. Hier ergeben sich in den vergleichenden Studien Parallelen zu einer wichtigen Unterscheidung zwischen „gegründeten“ und „ethnischen“ Religionen. Die ersteren führen ihren Ursprung auf eine Person zurück, auch wenn diese selbst nicht annahm, daß sie die Religion gegründet hat (Jesus, Konfuzius, Lao Tse). Bei den letzteren beziehen sich die Erinnerungen nicht auf Namen, sondern statt dessen auf mündliche ethnische Traditionen. Ein erforderlicher Prozeß beim Aufbau einer jeden gegründeten Religion findet statt, wenn sich ein innerer Kreis von Anhängern um einen Meister schart und bereit ist, diesem zu folgen. Als 1954 einige Leute beschlossen, die Scientology-Kirche zu gründen, wurde L. Ron Hubbard ganz selbstverständlich zu ihrem spirituellen Führer. Nachdem er sich entschieden hatte, sein Amt als Direktor der wachsenden Kirche niederzulegen, wurde der Status des Gründers im Laufe der Zeit legendär.

In Scientology war der oftmals kritische Zeitpunkt nach dem physischen Tod des Gründers einer Religion nicht sehr problematisch, da Hubbard seine formellen Ämter als Leiter seiner Kirche bereits zu Lebzeiten abgegeben hatte. Bereits vor seinem Ableben im Jahre 1986 wurde dem Gründer besondere Hochachtung zuteil, und in jeder Scientology-Kirche weltweit wurde ihm ein eigener Raum eingerichtet. Ganz gleich auf welche Art es geschehen ist, diese Art von Prozeß hat sich ­ bei einem religionsphänomenologischen Vergleich ­ als einer der wichtigsten Punkte in der Gründung einer jeden älteren oder neueren Religion herausgestellt, die selbst davon ausgeht, von jemandem gegründet worden zu sein.

Obwohl die Kirchen, Missionen und anderen Center sowie der Hauptsitz der Scientology die Symbole eines arbeitenden sozialen Milieus enthalten, weisen sie immer auch einen Platz zur Andacht auf ­ einen heiligen Platz für die wöchentliche Andacht und familiäre Zeremonien. Der Geist des Gründers, der den scientologischen Schriften über das menschliche Überleben nach auch jetzt anwesend ist, nachdem „L. Ron Hubbard seinen Körper [bei seinem Tod 1986] verlassen hat“, wird durch viele seiner Bücher und Bilder seiner Person ausgedrückt.

Die Scientology-Kirche hat eine eigene Mythologie, die sich auf das Leben und die Lehren ihres Gründers bezieht. Sie hat auch einen eigenen jährlichen Kalender von Feiertagen, an denen der Jubiläen im Leben des Gründers und in der Geschichte der Kirche gedacht wird.

Die Sea Organization (oder Sea Org) ist eine spezielle Einrichtung, die 1967 gegründet wurde, nachdem L. Ron Hubbard beschlossen hatte, sein Amt als Leitender Direktor der Kirche niederzulegen, um sich an Bord eines Schiffes auf seine literarische Arbeit zu konzentrieren. Seine damaligen ersten Anhänger wurden dann zur Kerngruppe der neu etablierten Religion. Im Laufe der Zeit wurde diese Gruppe zu einem mythischen Modell, das als der Kern und die hingebungsvollsten Mitglieder der Kirche angesehen und geachtet wird. Alle Mitglieder der Sea Organization widmen sich ganztägig ihrer Religion, indem sie im Führungsstab der Kirchen der höheren Ebenen dienen. Der Beweis ihrer Hingabe ist ein Anstellungsvertrag mit der Sea Organization „für die nächste Milliarde Jahre“.

Diese Art der religiösen Orden erinnert in vielen Aspekten an die Kreise von Jüngern, die sich um Gründer von Weltreligionen wie Jesus oder Mohammed scharten, oder die monastischen Orden von Mönchen um Prinz Gautama, als dieser zum Buddha wurde. Es handelt sich dabei um ein ganz spezielles Manifest von religiöser Mythologie und Symbolik. Als solches ist es eines der Kriterien, auf die wir unsere Schlußfolgerung stützen, daß es sich bei Scientology um eine neue Religion handelt.

Es ist typisch für Mitglieder des religiösen Ordens der Kirche, daß sie gemeinsam eine Art erweiterte Familie bilden, die ihre meiste Zeit der Arbeit für die Kirche und in der Kirche widmen und sich gleichzeitig gegenseitig um ihre täglichen und wirtschaftlichen Bedürfnisse ­ auch um ihre Kinder ­ kümmern. Diese Art von Lebensgestaltung ist so umfassend, daß die Mitglieder der Sea Organization meistens unter sich Familien gründen. Die von den Sea-Org-Mitgliedern allgemein getragene Matrosenuniform ist ein wichtiger Faktor des Zusammenhalts auf emotionaler wie auf sozialer Ebene.

Bei der Mehrheit der Kirchenmitglieder handelt es sich um Gemeindemitglieder, die außerhalb der Kirche leben und arbeiten, aber am Auditieren, den Kursen und den anderen Angeboten der Scientology-Kirche teilnehmen. Sie kommen aus allen Schichten. Sie gehören der örtlichen scientologischen Kirchengemeinde und religiösen Gemeinde an und orientieren ihr Leben zu verschiedenen Graden an der Scientology als ihrer Religion. Sie leben nach den Ethikkodizes und Standards der Scientology, wenden die Prinzipien und Methoden der Scientology in ihrem Leben an und erziehen ihre Kinder zu einem Leben und Verhalten als Scientologen.

Vom Mythischen her gesehen durchbricht die spirituelle Bindung in den scientologischen Lehren die normalen Grenzen der menschlichen Existenz. Anstatt der Wiedergeburt, wie sie z. B. im Hinduismus und Buddhismus gelehrt wird, hat die Scientology eine eigene Doktrin über „frühere Leben“ entwickelt. Die Scientologen erzählen zum Beispiel beim Auditieren aus ihren früheren Leben, während sie sich auf die Zustände Clear und Operierender Thetan vorbereiten, der im letzten Schritt des scientologischen Weges zur spirituellen Erleuchtung erreichten Harmonie des Verstandes ­ die an die buddhistische Erleuchtung erinnert.

Die Scientology-Kirche ordiniert Geistliche, nachdem diese ein bestimmtes Seminar absolviert haben. Die ausgebildeten und ordinierten Geistlichen, Männer wie Frauen, kümmern sich um die Rituale gemäß den Handbüchern für Rituale. Die wichtigen heiligen Handlungen umfassen die mit den wöchentlichen Sonntagsandachten zusammenhängenden Abläufe und die „Durchgangsriten“, die sich auf Schlüsselmomente des menschlichen Lebenskreises beziehen. Die Scientology-Kirche hat in diesem Fall mehrere sehr präzise Modelle für Namensgebungen, Hochzeiten und Beerdigungen geschaffen, zusammen mit Musterpredigten des Gründers.

6. Die Rolle der Scientology im Austausch der Religionen

Heutzutage treffen Religionen nicht so sehr in friedlichen Landschaften, als vielmehr auf den Straßen und in den Ghettos der Stadtzentren aufeinander; die Religionen und Weltanschauungen treffen sich dort, wo sich die Leute in den Wartesälen ihrer Leben und auch Tode treffen, sehr oft sogar innerhalb der Familie. Dies betrifft insbesondere die Scientology-Kirche, die gleichermaßen modern, städtisch und familienorientiert ist.

Die Scientology-Kirche nimmt heute sehr aktiv an interreligiösen Dialogen mit Vertretern der großen Weltreligionen als auch mit solch neuen Religionen wie der Vereinigungskirche, oder neo-hinduistischen und neo-buddhistischen Bewegungen teil. In diesen Dialogen werden nicht nur religiöse Aspekte behandelt, sondern auch Fragen zu Krieg und Frieden, Ökologie und Umweltverschmutzung, die Zukunft der Familie, die Rolle der Frau usw., und es werden auf einer weltweiten Grundlage neue Programme und Funktionen eingerichtet.

7. Scientology als eine neue Religion

Vor dem Hintergrund der fünf vorstehend diskutierten Kategorien wollen wir jetzt die Rolle und den Platz der Scientology-Kirche in dem schnell wachsenden Korpus der Bewegungen untersuchen, die „neue Religionen“ genannt werden, indem wir uns insbesondere mit ihren Lehren, Praktiken und Organisationen befassen. Die Streitfrage lautet: Handelt es sich bei der Scientology um eine „Religion“ oder nicht? Dieser Bericht kann mit einer anderen Studie von Bryan R. Wilson verglichen werden, einem britischen Religionssoziologen, der die Scientology im allgemeinen anhand der folgenden Religionsparameter untersucht hat:

a. Glauben, Praktiken, Beziehungen und Institutionen in bezug auf das Übernatürliche, die Suche des Menschen nach Antworten auf seine Existenz, usw.

b. Praktiken, die Gehorsam, Verehrung oder Anbetung darstellen.

c. Der kollektive oder Gruppencharakter des religiösen Lebens.

Nach dem eingehenden Studium mehrerer Weltreligionen bietet Wilson eine ausführliche Beschreibung der Scientology als Theologie und Institution an. Seine wichtigen abschließenden Aussagen schließen ein, daß sich „Religionen im Laufe der Zeit ändern“ und sich „die Religion per se ändert“.

Wilson hat den wichtigen Punkt der „Änderung“ erkannt, als er seine Bedeutung auf Fakten gelegt hat, bei denen wir ganz seiner Meinung sind: „Neuere Religionen“ oder „moderne Bewegungen“ „befinden sich nicht im Gleichklang mit allen Punkten unseres (relativ zeitlosen) Modells“. Wilsons abschließender Standpunkt ist, daß „Scientology eine echte (bona fide) Religion ist und als solche angesehen werden sollte“.

Wir befassen uns als nächstes mit der Scientology anhand der fünf Dimensionen einer Religion.

a. Kognitive Dimension

Die kognitive Dimension der Scientology wird in ihrer Doktrin der Acht Dynamiken durch ihre einzigartige und ausführliche Ansicht der Welt und des Universums belegt, die jede Existenz in acht verschiedene Ebenen unterteilt, mit dem spirituellen Reich und Gott an der Spitze. Der Glaube der Scientologen an die Existenz des Übernatürlichen ist eingebettet in ihren Glauben an das wahre Ich als ein geistiges Wesen ­ den Thetan ­ und die Unsterblichkeit des Thetans durch Tausende von Vorleben hindurch, sowie in ihren Glauben an die spirituelle Welt und an Gott. Durch diese übernatürlichen Kräfte und Gott bestimmen die Scientologen ihr Schicksal, ihre Bedürfnisse und ihre Werte.

Scientology muß auf jeden Fall als eine auf Schrifttum basierende oder als eine „Buch“-Religion angesehen werden. Ihre Traditionen werden fast ausschließlich durch ihr Glaubensbekenntnis und die Bände von Schriften und Vorträgen ihres Gründers überliefert.

b. Affektive oder emotionale Dimension

Die affektive oder emotionale Dimension der Scientology findet sich in ihrer engen Beziehung zwischen der scientologischen Praktik und dem übernatürlichen Reich. Die religiöse Erfahrung der Scientology liegt im Auditieren und der Ausbildung, bei denen die Scientologen mit ihrer spirituellen Realität in Verbindung treten. Diese Verbindung ist insbesondere beim Auditieren wesentlich, da der Scientology-Geistliche den Thetan durch seine Vorleben führt und ihm hilft, die Vorfälle zu bewältigen, in denen ihm spiritueller Schaden widerfahren ist. Durch ihre Bemühungen, die acht Dynamiken zu koordinieren und auszurichten, halten die Scientologen eine enge Verbindung zu der spirituellen Ebene und zu Gott aufrecht. Scientologen sehen sich selbst und andere als geistige Wesen (nicht als Körper), die weit über die physische Dimension hinaus existieren. Sie teilen im allgemeinen gemeinsame Ansichten untereinander und einen solidarischen Zusammenhalt mit anderen Menschen und mit dem spirituellen Universum.

c. Instinktive oder verhaltensmässige Dimension

Die instinktive oder verhaltensmäßige Dimension der Scientology-Religion findet sich in ihren hauptsächlichen Riten ­ den religiösen Praktiken des Auditierens und der Ausbildung ­ und den die Lebensphasen begleitenden Riten: Hochzeitszeremonien, Beerdigungen und Namensgebungen. Die Doktrin der Scientology verlangt des weiteren von ihren Gemeindemitgliedern den höchsten Standard ethischen Verhaltens und beinhaltet ein hochentwickeltes System von Verhaltensregeln, welche die Lebensführung bestimmen sollen. Diese finden sich in den allgemeinen Prinzipien des scientologischen „Systems für Ethik und Recht“ sowie in den mehr speziellen Kodizes wie z. B. im Auditorenkodex, im Kodex des Kursüberwachers, im Ehrenkodex und im Kodex eines Scientologen.

d. Soziale Dimension

Die soziale Dimension der Scientology-Religion wird durch ihr komplexes kirchliches Gefüge ausgedrückt. Die internationale Kirchenhierarchie der Scientology-Kirche besteht aus mehreren Ebenen und mehreren speziellen Organisationen, deren Aufgabe es ist, die Orthodoxie und die Aktivitäten der einzelnen Kirchen zu überwachen. In der Kirchenhierarchie existiert die Church of Scientology International (CSI), die „Mutterkirche“, deren Aufgabe es ist, die weltweite Praktik und Verbreitung der Religion zu leiten. Dann gibt es das Religious Technology Center, das unmittelbar für die Reinheit der scientologischen Schriften und für das orthodoxe Praktizieren der Religion verantwortlich ist.

Die einzelnen Kirchen unter der Leitung der CSI sind in einer Hierarchie angeordnet, welche die Ebene der von ihnen abgehaltenen Dienste reflektiert. So gibt es zum Beispiel in Florida die Church of Scientology Flag Service Organization, an der scientologische Dienste der höchsten Ebene abgehalten werden, und die verschiedenen, über die ganze Welt verteilten „Fortgeschrittenen Organisationen“ und „Saint Hill Kirchen“, in denen Dienste der mittleren Ebene angeboten werden. Darunter befinden sich die örtlichen Scientology-Kirchen, Scientology-Missionen und unabhängige Geistliche, die Dienste der niedrigeren und niedrigsten Ebene übernehmen. Jede dieser Ebenen wird wiederum von einer Kirchenorganisation geleitet, die der CSI unterstellt ist.

e. Kulturelle Dimension

Die kulturelle Dimension der Scientology ist ebenso reichhaltig wie abwechslungsreich. Obwohl die Scientology neu ist, hat sie eine bestimmte Kultur, die sich durch viele einzigartige Merkmale ausdrückt. Sie hat eine eigene Fachsprache (die in zwei verschiedenen Wörterbüchern aufgezeichnet ist) mit Begriffen wie „Thetan“, „Clear“, „Auditieren“, um nur ein paar zu nennen. Sie hat einen eigenen Feiertagskalender, der z. B. den Geburtstag von L. Ron Hubbard, den „Auditoren-Tag“ und andere Zeitpunkte beinhaltet, die nur für Scientologen von spezieller Bedeutung sind. Es gibt bestimmte Orte, die für Scientologen von großer religiöser Bedeutung sind und zu denen die Mitglieder Pilgerfahrten unternehmen, wie z. B. Hubbards Haus in Saint Hill Manor, England, und die Church of Scientology Flag Service Organization in Florida.

Die Scientologen verhalten sich streng nach den Regeln der scientologischen Schriften. In ihrem täglichen Leben, in ihren Beziehungen und in ihren familiären Angelegenheiten wenden sie die Ethik und Moral der Scientology an. Viele Scientologen schulen ihre Kinder in Schulen ein, in denen die Prinzipien der Scientology wie z. B. die von Hubbard entwickelten Lernmethoden angewandt werden. Scientologen aller Altersgruppen nehmen keine Drogen und lehnen den Gebrauch von Drogen scharf ab.

Diejenigen Scientologen, die sich ihrer Religion am meisten widmen ­ die Mitglieder der Sea Organization ­, leben einen gemeinschaftlichen Lebensstil, sorgen gegenseitig für ihre täglichen Bedürfnisse wie Essen, Unterkunft und medizinische Versorgung, tragen bestimmte Uniformen, leben nach ihren bestimmten Bräuchen und widmen fast ihre gesamte Zeit dem Dienst an ihrer Religion. Für die in ihrem religiösen Orden dienenden Menschen ist die Scientologykirche mit all ihren Funktionen ganz klar ein „Lebensstil“.

Unsere vorstehenden Untersuchungen haben gezeigt, daß in einer modernen Welt mit vielen neuen Religionen in bezug auf Religion und ihre globale Vielfalt eine offenere Sicht erforderlich ist als die engen Definitionen, die sich auf Interpretationen des lateinischen Begriffs „religio“ gründen und auch heute noch von einigen Regierungsvertretern benutzt werden. Die fünf Variablen, die in die Kategorie der Religion eingeschlossen werden müssen, sind 1. die intellektuellen, 2. die emotionalen, 3. die verhaltensmäßigen, 4. die sozialen und 5. die kulturellen Faktoren, die vorstehend alle zuerst allgemein und dann mit Hinblick auf Scientology untersucht wurden.

Schlussfolgerungen

Es gibt unserer Meinung nach viele Gründe, warum Scientology als eine neue Religion angesehen werden kann. Ein besonders triftiger ist jedoch der Umstand, daß es sich um eine im Westen entstandene Religion in einer sehr westlichen Bedeutung des Wortes „Religion“ handelt. Wir haben hier ganz klar eine Manifestation derjenigen Art neuer „Religiosität“, die in der westlichen Welt aufgetreten ist und mit Hilfe der modernen Medien der sozio-kulturellen Netzwerke ihre religiöse Botschaft an die breite Öffentlichkeit getragen hat.

Durch ihre ehrgeizigen Bemühungen, sich der Vorteile ihrer umfassenden Netzwerke zu bedienen, wurde sie zu einer der „modernsten“ und am meisten „diskutierten“ Religionen unserer Zeit.

Es ist typisch für viele der sogenannten neuen Religionen, daß sie nicht von den praktizierenden Leuten, sondern von den Gelehrten als „Religionen“ bezeichnet wurden. Anstatt streng organisierte Formalitäten einzurichten, ziehen es einige der neuen religiösen Bewegungen vor, unorganisiert zu bleiben. So haben zum Beispiel eine große Anzahl der neuen Neo-Hindu-Yoga- oder Meditationsgruppen keine Organisationen, und sie lehnen es strikt ab, als „religiös“ bezeichnet zu werden. Vielleicht lassen sich einige von ihnen in ihrer späteren Entwicklung als Körperschaft „registrieren“, falls dies nötig werden sollte ­ vielleicht sogar als „Forschungsinstitute“ gemäß der Bundes- oder Landesgesetzgebung, die die Gründung „religiöser“ Vereinigungen und alternativer Körperschaften in den jeweiligen Ländern regelt.

Die Scientology-Kirche war seit ihrer Gründung 1954 eine der wenigen neuen Religionen, die ihre Organisationen immer klar gekennzeichnet und sich bemüht hat, als religiöse Körperschaft anerkannt zu werden. Scientology wurde in der Tat bereits von vielen offiziellen Körperschaften in verschiedenen weltweiten Kulturen als „Kirche“ und „Religion“ anerkannt.

Die Doktrin und die Scientology-Kirche selbst hängen mit dem Umstand zusammen, daß sie sich auf die Vision eines modernen Amerikaners gründen, der im 20. Jahrhundert geboren wurde und es vorzog, zu schreiben und öffentliche Vorträge zu halten, anstatt seine Botschaft zu predigen. Der religiöse Gedanke war nicht in den ersten Schriften und Lehren von L. Ron Hubbard manifestiert, die eher als Experiment gedacht und psycho-philosophischer Natur waren. Die Dianetik wurde daher erst zur Scientology, nachdem Hubbard in seinen späteren Forschungen auf ihre spirituelle Dimension und ihre spirituelle Verbindung zu den alten Weltreligionen gestoßen war.

Der Hintergrund der Lehren der Scientology liegt in verschiedenen Religionen und philosophischen Traditionen. Die von ihrem Gründer entwickelte und verkündete Botschaft einer neuen „Buchreligion“ wurde gewissenhaft aufgezeichnet und wird durch den Korpus der heiligen Schriften bewahrt. Diese gesamten heiligen Schriften stellen eine Quelle für religiöse Erfahrungen, Rituale und weitere Handlungen sowie für die soziale Struktur der Kirche mit ihren kulturellen Mustern dar.

Die umfassende soziale Organisation der Scientology-Kirche mit all ihren Netzwerken und kulturellen Infrastrukturen ist ein wichtiger Beweis dafür, daß es sich hier um eine Gesellschaft handelt, die sehr wohl als „religiös“ bezeichnet werden könnte. Die maritime Mythologie seines religiösen Ordens, der Sea Organization, bildet die Grundlage ihrer sozialen Struktur für alle, die ihr Leben voll und für immer den Zielen der Kirche verschrieben haben.

Aufgrund unserer Kontakte zu einigen Mitgliedern der Kirche im europäischen und in den nationalen Hauptsitzen der Kirche in den skandinavischen Ländern haben wir erkannt, daß die Kirche für diese Leute ein Modell für ihren Lebensstil sowie auch solche Erfahrungen bietet, die man im Hinblick auf Hingabe und Engagement als religiös bezeichnen kann.

Wir haben daher festgestellt, daß es sich bei der Scientology um eine Religion handelt.

Quellenmaterial zu Scientology

Eine Übersicht der rapide zunehmenden Literatur über die Scientology-Kirche weist darauf hin, daß man zwischen vier grundlegenden Arten von Veröffentlichungen unterscheiden kann:

1. Die Schriften und auf Band aufgenommenen Vorträge und Filme von L. Ron Hubbard, die gleichzeitig die heiligen Schriften der Scientology darstellen.

2. Zusätzlich zu dem bemerkenswerten Umfang der Schriften von L. Ron Hubbard über die Natur des Menschen und wie man ihn erlösen kann, hat die Kirche selbst eine beachtliche Menge von Texten und audiovisuellen Aufzeichnungen über ihre Geschichte und Gegenwart produziert, insbesondere in bezug auf ihren 40. Jahrestag im Jahre 1994. Der Brennpunkt dieser von der Kirche kommenden Veröffentlichungen liegt bei den kanonischen Texten der Kirche und ihrer inneren Geschichte.

3. Einige der Veröffentlichungen sind immer noch darauf zurückzuführen, daß die Scientology-Kirche seit ihrer Gründung im Jahre 1954 in den Massenmedien einiger Länder Mittelpunkt einer kritischen Debatte war. Diese Texte, die von Außenstehenden verfaßt wurden, sind oft polemisch und tendenziös.

4. In den letzten Jahren hat die um Neutralität bemühte religionssoziologische Literatur über die Scientology-Kirche an Quantität zugenommen. Dies ist auf die heute von vielen Gelehrten geteilte Auffassung zurückzuführen, daß es sich bei Scientology um eine „Religion“ handelt. Es ist typisch, daß die Scientology- Kirche in den neuesten Handbüchern, die von Historikern und Religionssoziologen wie Barker, Holm, Melton, Wilson usw. veröffentlicht wurden, als eine „neue Religion“ angesehen wird.

Die meisten wissenschaftlichen Arbeiten über Scientology wurden auf der Grundlage geschriebener Quellen vorgenommen. Da die Geschichte der Scientology jedoch so kurz ist, könnten auch bei der Arbeit vor Ort, z. B. durch Interviews mit wichtigen Informanten und Gemeindemitgliedern sowie durch Beobachtungen bemerkenswerte neue Informationen gewonnen werden. Neben dem Studium von Schrifttum haben wir uns auch mit Mitarbeitern des europäischen, dänischen und finnischen Hauptquartiers der Kirche in Kopenhagen und Helsinki getroffen und diese hierzu interviewt und die Funktionen der Kirche in der praktischen Anwendung beobachtet. Während der Erstellung dieses Berichts wurden uns freundlicherweise eine Reihe von Dokumenten, Handbücher sowie gedruckte und ungedruckte Berichte über den vormaligen und gegenwärtigen Stand der Scientology-Kirche und ihre Entwicklung in verschiedenen Ländern zur Verfügung gestellt.

Über die Verfasser

Dieser Bericht wurde im Januar 1996 von Juha und Marja Pentikainen, deren Curricula Vitae nachstehend zusammengefaßt sind, gemeinsam verfaßt.

Professor Dr. Juha Pentikainen hält den Lehrstuhl für Religionswissenschaften an der Universität Helsinki, Finnland, und ist Leiter des Instituts für Sozialwissenschaften an der Universität Tromsø, Norwegen. Nachdem er im Jahr 1968 von der Universität Turku den Doktortitel verliehen bekommen hatte, wurde er 1972 beauftragt, an der Universität Helsinki das neue Lehrfach Religionswissenschaften einzuführen. Er hat als Gastprofessor für Religionswissenschaften, kulturelle und soziale Anthropologie, Folkloristik und Skandinavische Wissenschaften Vorlesungen an den Universitäten von Kalifornien (Berkeley, Los Angeles), Texas (Austin), Minnesota (Minneapolis), Indiana (Bloomington) und Rom (Sapienza) gehalten. Er war Delegierter Finnlands bei den Vereinten Nationen und der UNESCO und wurde von der finnischen Regierung und Ministerien als Mitglied und Berater mehrerer Arbeitsgruppen und Komitees nominiert. Juha Pentikainen war in allen Kontinenten außer Südamerika praktisch tätig und hat in über 60 Ländern Vorträge gehalten. 1994 wurde er beauftragt, am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Tromsø ein neues Lehrfach und eine Abteilung für Religionswissenschaften zu gründen. Er hat über 20 Bücher und 350 Artikel verfaßt und 10 Filme gedreht, die mit mehreren internationalen Preisen und Auszeichnungen bedacht wurden. 1995 wurde er für die Mitgliedschaft der Academia Scientiarum Fennica nominiert.

Marja Pentikainen, MSC, ist Executive Chief (Generaldirektorin) des Ausländerbüros der Stadt Tampere. Nachdem sie ihren akademischen Grad in Sozialpolitik erworben hatte, widmete sie sich ihrer Doktorarbeit an der Universität Tampere. Sie hat Erfahrung als Sozialarbeiterin und leitet heute das von ihr 1989 gegründete Büro. Sie ist Dozentin an den Universitäten Tampere und Helsinki, Mitglied in verschiedenen Sachverständigengruppen und -komitees und fungiert als Beraterin ihrer Regierung und des Parlaments in Ausländer-, Immigranten- und Flüchtlingsfragen und die diese Gruppen betreffenden sozialen Probleme, Wertvorstellungen und Religionen. Ihre Veröffentlichungen umfassen die Dissertation „Kultur ist ein Schlüssel“ (1994), „Finnische Emigration und Immigration“ (1995) und ein für die UNESCO verfaßter Bericht, der sich mit Ausländern und Flüchtlingen in Finnland beschäftigt. 1995 hatte sie bei der Internationalen Professorenkonferenz in Seoul, Korea, den Vorsitz über das Forum „Die Zukunft der Familie“.

Die Scientology-Kirche

In Englisch:

The Church of Scientology