Prof. Lonnie D. Kliever – Die Glaubwürdigkeit der Zeugenaussagen von Abtrünnigen über neue religiöse Bewegungen

I. BERUFLICHER HINTERGRUND

1. Ich erhielt einen Bachelor of Arts mit magna cum laude in Psychologie von der Hardin-Simmons-Universität im Jahre 1955. Ich schloß den Master of Divinity mit magna cum laude am Union Theologischen Seminar von New York im Jahre 1959 ab. Ich erhielt den Doktor der Philosophie in Religion und Philosophie von der Duke Universität im Jahre 1963.

2. Ich hielt in der Vergangenheit vollzeit Posten im Universitätsbereich im Philosophie-Department der Universität von Texas in El Paso von 1962-65 und stieg dort zum Rang eines außerordentlichen Professors auf, in der Religionsabteilung der Trinity Universität von San Antonio von 1965-69, in der Abteilung für Religionsforschung an der Windsor Universität von Ontario, Kanada von 1969-75 und wurde ordentlicher Professor. Seit 1973 war ich ordentlicher Professor für Religionsstudien an der Southern Methodist Universität und diente als Vorstand der Abteilung für Religionsstudien von 1975-86 und von 1993 bis in die Gegenwart.

3. Ich bin seit langer Zeit Mitglied in gutem Ansehen bei der Amerikanischen Vereinigung der Universitätsprofessoren, der Amerikanischen Religionsakademie, der Gesellschaft für die Wissenschaftliche Erforschung der Religion, der Amerikanischen Theologenvereinigung, der Kanadischen Theologischen Gesellschaft, dem Rat zur Erforschung der Religion und ich hielt nationale Positionen inne, war Vorsitz beruflicher Vereinigungen und diente im Herausgeber-Vorstand in den meisten dieser Berufsvereinigungen.

4. Ich bin Religions- und Kulturwissenschaftler mit besonderer Betonung auf den Religionen der Moderne. Ich interessiere mich vor allem für die sich verändernden Formen des religiösen Glaubens und der Praxis sowohl in den traditionellen als auch den neueren religiösen Bewegungen und wie diese älteren und jüngeren Religionen auf die Herausforderungen und Veränderungen der Moderne reagieren. Ich gebe regelmäßig verschiedene Seminare für Nichtgraduierte und Graduierte in vergleichender, philosophischer und sozialer wissenschaftlicher Erforschung der Religion an der Southern Methodist Universität. Ich führe auch regelmäßig ein wissenschaftliches Forschungs- und Veröffentlichungsprogramm auf meinem Spezialgebiet durch, wobei ich fünf Bücher veröffentlicht habe, die sich mit dem Gedankengut moderner Religionen befassen, mit den Titeln Radikales Christentum (1968), H. Richard Niebuhr (1977), Das erschütterte Spektrum (1981), Die schrecklichen Sanftmütigen: Aufsätze über Religion und Revolution (1987) und Der Fall Dax: Aufsätze über Medizinische Ethik und den Sinn des Menschen (1989) als auch zahlreiche Artikel in führenden wissenschaftlichen Veröffentlichungen wie The Harvard Theological Review, The Journal of Religion, The Journal of the American Academy of Religion, Studies in Religion, Religion in Life, The Religious Studies Review und The Journal for the Scientific Study of Religion.

5. Als Spezialist in modernen Religionen habe ich eine ausführliche wissenschaftliche Studie der Scientology Kirche durchgeführt. Ich habe die meisten der theoretischen Texte, die von L. Ron Hubbard geschrieben und veröffentlicht wurden, gelesen, viele der technischen und administrativen Bulletins, die von Herrn Hubbard stammen, durchgesehen und repräsentative Beispiele der Ausbildungshandbücher, die von Lehrern und Studenten in verschiedenen von der Kirche angebotenen Kursen verwendet werden, untersucht. Ich habe auch eine Reihe von journalistischen und wissenschaftlichen Studien über die Scientology Kirche gelesen. Darüber hinaus habe ich Interviews mit zahlreichen praktizierenden Scientologen geführt und ihre Kirche in der 46. Straße, ihr Celebrity Center in New York City, ihre Flag Service Organisation in Clearwater Florida und ihr Celebrity Center in Dallas besucht.

II. AUFGABENSTELLUNG

6. Ich wurde von der Scientology Kirche gebeten, meine Expertenmeinung zu zwei weitgehenden Fragestellungen abzugeben: (1) dem Auftreten von Abtrünnigkeit in neuen religiösen Bewegungen und (2) der Glaubwürdigkeit der Darstellungen von Abtrünnigen ihrer früheren religiösen Überzeugungen und Praktiken. Diese zwei Fragen sind von entscheidender Bedeutung für ein richtiges Verstehen neuer religiöser Bewegungen, da diese Abtrünnigen oft als verläßliche Informanten für ihre früheren Überzeugungen und Praktiken in Presseveröffentlichungen und sogar in wissenschaftlichen Studien über nicht-traditionelle Bewegungen auserwählt werden. Darüber hinaus hat eine limitierte Zahl von Abtrünnigen Schadenersatzklagen eingereicht, in denen sie verschiedentlich ihre vorherige religiöse Gemeinschaft täuschender und betrügerischer Praktiken oder körperlicher und emotionaler Nötigung beschuldigen. Auf der anderen Seite haben diese einzelnen Kläger oft als Gutachter in anderen Fällen fungiert, die gegen neue Religionen entweder von Regierungsbehörden oder von feindseligen Dissidenten eingereicht wurden.

7. Die besondere Aufmerksamkeit der Medien für Abtrünnige von neuen religiösen Bewegungen und deren Beschreiten des Rechtswegs wegen angeblicher Schäden, die sie innerhalb ihrer früheren religiösen Gruppe erlitten haben, hat in diesem Jahrhundert einen profunden Wechsel in der Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber Abtrünnigen und deren Behandlung zur Folge gehabt. In der Vergangenheit wurden Abtrünnige rundweg dafür verdammt, daß sie ihren Glauben zugunsten eines anderen aufgegeben haben. Es war in der Tat so, daß die Strafaktionen, die von der zurückgewiesenen religiösen Gruppe gegen den Abtrünnigen unternommen wurden, oft noch von der Staatsmacht verstärkt wurden. Im Gegensatz dazu ist es in den vergangenen Jahren so, daß der Abtrünnige eher dazu neigt, Strafaktionen gegen die religiöse Gruppe zu unternehmen, oftmals mit Unterstützung des Gesetzes. Abtrünnige von neuen religiösen Bewegungen werden eher als Opfer gesehen denn als Überläufer, was auf die schroff negativen Geschichten, die sie über ihre religiöse Vergangenheit erzählen, zurückzuführen ist. Es bleibt aber die Frage, ob die Darstellungen glaubwürdige Berichte ihrer vergangenen religiösen Verbindungen und Aktivitäten sind.

8. Das besondere Interesse der Scientology Kirche in der Frage der Glaubwürdigkeit von Abtrünnigen basiert auf der Tatsache, daß sie das Ziel von Presse-„Enthüllungen“ und Zivilklagen gewesen ist, die auf Abtrünnige zurückzuführen sind. Im Vorgriff auf die ausführliche Diskussion, die folgt, bin ich aufgrund meiner eigenen beruflichen Ausbildung und wissenschaftlichen Forschung davon überzeugt, daß der Abtrünnige von den Massenmedien, der wissenschaftlichen Gemeinschaft, dem Rechtssystem oder Regierungsbehörden nicht unkritisch als glaubwürdige Informationsquelle über neue religiöse Bewegungen akzeptiert werden sollte. Der Abtrünnige muß immer als eine Person betrachtet werden, die dafür anfällig ist, eine voreingenommene Darstellung der religiösen Glaubensinhalte und Praktiken seiner oder ihrer vorherigen religiösen Verbindung und Aktivitäten zu geben.

III. ABTRÜNNIGKEIT IN DER VERGANGENHEIT

9. Das Wort „Apostat“ (Abtrünniger) ist eine Umschreibung des griechischen Wortes apostasia, das ursprünglich Rebellion oder Lossagung bedeutete. Seine religiöse Verwendung bezeichnet die freiwillige Aufgabe jemandes‘ Religion. Abtrünnigkeit ist eng verwandt mit Häresie, wobei die Zurückweisung der orthodoxen Glaubensinhalte und Praktiken innerhalb einer gegebenen Religion als kategorische Verneinung wahrer Religion angesehen wird. Abtrünnigkeit als solche muß eher als ein öffentliches denn ein privates Ereignis betrachtet werden. Abtrünnigkeit ist nicht eine Angelegenheit privater religiöser Zweifel oder aufgegebener religiöser Bräuche. Abtrünnigkeit ist eine öffentliche Lossagung und Verdammung jemandes früherer religiöser Überzeugungen und Bräuche. Der Abtrünnige gibt oft eine Religion für eine andere auf, kann aber auch der Religion insgesamt entsagen.

1. Abtrünnigkeit im hellenistischen Judentum

10. Die hebräische Bibel verurteilt hart die nationale Abtrünnigkeit der alten Israeliten, die sich wieder und wieder den polytheistischen Religionen und Kulturen zuwandten, denen sie entstammten. Die ersten Akte individueller Abtrünnigkeit ereigneten sich aber unter der Herrschaft von Antiochus Epiphanes (ca. 175 – 164 v. Chr.), als viele Juden von diesem heidnischen Herrscher gezwungen wurden, die Verehrung ihres Gottes zugunsten griechischer Götter aufzugeben. Die Vorliebe für die hellenistische Kultur gewann erheblichen Einfluß innerhalb der jüdischen Religion und Kultur bis zum maccabäischen Aufstand, der jüdisches Gesetz und jüdischen Nationalismus erfolgreich wiederherstellte. Sporadische Abtrünnigkeit hielt an, aber eine solche Aufgabe des jüdischen Gesetzes wurde innerhalb der jüdischen Gemeinde mit härtester Verdammung beantwortet.

11. Unter späterer römischer Herrschaft wurde es den Juden erlaubt, ihre Religion unter der nominellen politischen Herrschaft eines jüdischen Vierfürstentums frei zu praktizieren. Sektiererische Bewegungen florierten während dieser Periode, keine davon mächtiger als die christliche Bewegung, die sich im Lauf der Zeit vom Judentum völlig abspaltete. Sektierer und Christen wurden als Abtrünnige verdammt. Darüberhinaus wurde derlei Abtrünnigkeit in politischen als auch religiösen Begriffen verdammt, da Religion und Bürgerrecht bei den Juden eng verbunden waren. Abtrünnigkeit wurde als Verbrechen gegen den Staat als auch als Sünde gegen Gott betrachtet. Dem Abtrünnigen wurden sowohl die Erlösung als auch die Bürgerrechte verweigert.

2. Abtrünnigkeit in heidnischen Religionen

12. Aufgrund ihrer polytheistischen Natur war die Idee der Ausschließlichkeit der griechischen und römischen Religion im allgemeinen fremd. Die heidnischen Kulte schlossen Mitglieder, die rivalisierenden religiösen Traditionen oder philosophischen Zirkeln anhingen, nicht aus. Oft aber wurden die Götter heidnischer Religionen von den zivilen Autoritäten offiziell anerkannt und mit dem Wohlergehen des Staates identifiziert. In solchen Fällen traf die Aufgabe politisch sanktionierter Religion auf öffentliche Kritik und sogar staatlich unterstützte Verfolgung. Im griechischen Orient wurden die Christen des Atheismus bezichtigt, da sie die Götter des Volkes zurückwiesen. Im lateinischen Westen wurde den Christen vorgeworfen, sie gäben die Religion ihrer Vorväter auf. Ganz gleich, wie der Vorwurf lautete, die frühen Christen, die sich weigerten, die bürgerlichen Götter zu verehren, wurden wegen Ungehorsams gegen den Staat verdammt und oftmals verfolgt. Kurz ausgedrückt war es so, daß Abtrünnigkeit in heidnischen Gesellschaften ein Problem wurde, wenn deren überkommene Bräuche oder bürgerliche Götter zurückgewiesen wurden.

3. Abtrünnigkeit in der christlichen Kirche

13. Viele frühe jüdische und heidnischen Konvertiten des Christentums beachteten weiterhin die jüdischen Gesetze oder nahmen weiterhin an heidnischen, religiösen Feierlichkeiten teil. Anfänglich wurde das Beibehalten alter religiöser Bräuche nicht als Abtrünnigkeit betrachtet. Abtrünnigkeit wurde nur ein eindeutiges Thema als sich die christliche Kirche vom Judentum und von gnostischen Formen des Christentums getrennt hatte. Schon im Neuen Testament wird Abtrünnigkeit mit falschen Lehrern und Propheten assoziiert, deren Auftreten das apokalyptische Ende der Zeiten ankündigt. In den frühen Jahrhunderten war Abtrünnigkeit größtenteils ein internes Problem, während sich das orthodoxe Christentum von häretischen und schismatischen Bewegungen trennte. Mit der Bekehrung von Konstantin wurde Abtrünnigkeit ein Zivilvergehen, das unter Strafe stand. Damit begannen mehr als tausend Jahre gegenseitiger Zusammenarbeit von Kirche und Staat. Der Staat verwendete die Macht des Schwertes um die Kirche gegen Abtrünnigkeit zu schützen und die Kirche benützte ihre Macht der Heiligen Schrift um den Staat gegen Rebellion zu schützen. Abtrünnige wurden ihrer Bürgerrechte als auch ihrer religiösen Rechte beraubt. Der offene Abfall vom Christentum war dort selten, wo die Verbindung zwischen Kirche und Staat fest war, es wurden aber sogar heimliche abtrünnige Bewegungen aktiv unterdrückt. Folter wurde großzügig angewandt, um Schuldgeständnisse zu erpressen und Widerruf zu ermutigen. Abtrünnige und Schismatiker wurden von der Kirche exkommuniziert und vom Staat verfolgt.

14. Abtrünnigkeit kam an sich im großen Stil auch in der christlichen Geschichte. Das sogenannte „große Schisma“ zwischen der östlichen Orthodoxie und dem westlichen Katholizismus im 8. Jahrhundert markiert die erste große Teilung innerhalb des Christentums, die in wechselseitiger Exkommunikation resultierte. Die protestantische Reformation im 16. Jahrhundert trennte wiederum Christen von Christen. Jede sektiererische Gruppe nahm für sich den wahren Glauben und die wahre Ausübung des Neuen Testaments in Anspruch und wies damit rivalisierende Versionen des Christentums den Status der Abtrünnigkeit zu. Darüber hinaus bedienten sich jene protestantischen Kirchen, die sich eines Gebietsmonopols erfreuten, der Waffen der religiös verordneten Exkommunikation und politisch unterstützter Verfolgung gegen rivalisierende Gruppen, die den Anspruch authentischen Christentums stellten. Erst mit dem Ende der Religionskriege und der Einführung von Toleranzedikten kamen derlei aktive politische Unterdrückungen der Abtrünnigkeit zu einem Ende. Formelle und informelle religiöse Sanktionen, die von Exkommunikation über Enterbung bis zu Zensur und Ausgrenzung reichten, wurden immer noch verwendet

15. Wie diesen kurze Übersicht beweist, diente die Verdammung von Abtrünnigen als „Strategie der Legitimation“ für all jene Religionen in der Vergangenheit, die den ausschließlichen Anspruch darauf stellten, die einzige Religion zu sein, die im Besitz des richtigen Glaubens und der richtigen Bräuche ist. In nationalen und territorialen Konstellationen, wo politische und religiöse Loyalitäten vermischt waren, wurden gegen Abtrünnigkeit sowohl rechtliche als auch religiöse Sanktionen erhoben. Der Abtrünnige wurde sowohl seiner Bürgerrechte als auch seiner Erlösung beraubt. Der Abtrünnige als solcher wurde als Verbreiter von Falschheit und Unmoral angesehen, der die Reinheit der religiösen Gemeinschaft und die Stabilität der politischen Ordnung gefährdete.

16. Abtrünnigkeit wurde in dem Maße immer weniger ein Problem in der modernen Welt in dem die religiösen Traditionen ihre dogmatischen Ansprüche herunterschraubten und sich die säkularen Gesellschaften von der religiösen Ummantelung befreiten. Die Akzeptanz eines religiösen Pluralismus und die Privatisierung des religiösen Glaubens in diesem Jahrhundert befreiten jene Personen, die ihre Religion wechselten, vom rechtlichen und religiösen Odium der Abtrünnigkeit. Sicherlich behält die römisch-katholische Kirche immer noch die Waffe der Exkommunikation, verdammen protestantische Fundamentalisten die Gefahr der Häresie und enterben gelegentlich fromme Familien ihre Kinder, die außerhalb ihres Glaubens heiraten oder zu einer anderen Religion übertreten. Aber diese Sanktionen haben nicht das öffentliche oder private Gewicht, das sei einmal hatten. Es sind rituelle Gesten religiöser Dogmatiker, die ihre unangezweifelte Autorität in einer pluralistischen und säkularen Gesellschaft verloren haben.

IV. ABTRÜNNIGKEIT IN DER GEGENWART

17. In den letzten dreißig Jahren wurde Abtrünnigkeit sowohl in privaten als auch öffentlichen Kreisen wieder ein Thema obwohl, wie oben ausgeführt, die Behandlung der heutigen Abtrünnigen wenig Ähnlichkeit mit der Art und Weise hat, wie diese in der Vergangenheit angesehen wurden. Seit den 60er Jahren sind eine Reihe von neuen religiösen Bewegungen in allen modernen, demokratischen Gesellschaften aufgetaucht. Viele dieser Minderheitsreligionen stellen „totalitäre“ Ansprüche an ihre Mitglieder, verlangen absolute Hingabe an ihre religiösen Lehren und ihre religiöse Gemeinschaft. Andere neue Religionen verlangen kein vollständiges Eintauchen aller Mitglieder in ihr Gemeinschaftsleben und ihre Mission, verlangen aber trotzdem strikte Befolgung ihrer doktrinären, ethischen und rituellen Standards. Es ist sicher so, daß alle neuen Religionen Glaubensinhalte und Bräuche haben, die mit den traditionellen Religionen im Konflikt sind. Es ist daher nicht überraschend, daß angesichts dieser rigorosen Forderungen manche jener, die sich damit eingelassen haben, sich bald dazu entscheiden, daß eine bestimmte religiöse Bewegung nichts für sie ist und sie verlassen. Ihr Abschied geht normalerweise unbemerkt vonstatten, weil die meisten der darin verwickelten Individuen ihre vergangene Erfahrung als einen weiteren Schritt auf ihrem eigenen spirituellen Weg positiv beurteilen. Im Gegensatz zum Obigen gibt es unter denen, die freiwillig gehen, ein paar wenige Abtrünnige, die große Bekanntheit durch ihre öffentlichen Angriffe auf ihre vorherige religiöse Verbindung und Aktivitäten durch Presse und in Gerichten erlangten. Als willkommene Informationsquellen für eine Öffentlichkeit, die sowohl neugierig als auch ängstlich über diese ungewohnten neuen Religionen ist, werden derlei Abtrünnige oft eher als berühmte Personen denn als sozial Ausgestoßene behandelt. Wie wir jedoch weiter unten sehen werden, können weder das still anerkennende ehemalige Mitglied noch der stimmgewaltig sich gekränkt fühlende Abtrünnige einer neuen religiösen Bewegung als objektiver und maßgeblicher Interpret der religiösen Bewegung, der er vorher angehörte, betrachtet werden.

1. Arten des Austritts

18. Es gibt ein in der allgemeinen Öffentlichkeit weit verbreitetes Mißverständnis, daß nur wenige Austritte freiwillig erfolgen und positive Erfahrungen sind. Das Bild der neuen Religionen als höchst reglementierte Gruppen, die die Gedanken und Aktionen ihrer Mitglieder durch eine Reihe von „Mind Control“ Techniken kontrollieren hat sich dank der Fixierung der Medien auf Horrorgeschichten von früheren Mitgliedern sowie der Propaganda von Anti-Kultgruppen tief ins öffentliche Bewußtsein eingegraben. Sogar viele frühere Beschreibungen der neuen religiösen Bewegungen durch Wissenschaftler verliehen dieser Vorstellung Dauer indem diese ihre Studien fast ausschließlich auf Abtrünnige basierten, die mit Gewalt entweder durch erzwungenes Deprogramming oder unfreiwillige Einweisung in eine Heilanstalt von ihrer früheren religiösen Verbindung getrennt wurden. Eine Anzahl kürzlicher wissenschaftlicher Studien jedoch (z.B. James A. Beckford, Kult Kontroversen: Die Antwort der Gesellschaft auf neue religiöse Bewegungen, London, Tavistock Veröffentlichung, 1985; Stuart A. Wright, Austritt aus Kulten: Die Dynamiken des Austritts, Washington D.C.: Gesellschaft für die wissenschaftliche Erforschung der Religion, 1987) haben klar gezeigt, daß es zwei sehr unterschiedliche Arten von Abtrünnigkeit gibt, die wiederum als zwei sehr verschiedene Beurteilungen neuer religiöser Bewegungen zueinander in Beziehung gesetzt werden können.

19. Nur eine kleine Minderheit von Abtrünnigen neuer religiöser Bewegungen sind das Ergebnis erzwungener Abtrünnigkeit. Zwangsmaßnahmen um eine bestimmte Person von einer neuen religiösen Bewegung zu „retten“ werden immer durch Außenstehende veranlaßt. Verwandte, die die Verwicklung eines Individuums in eine neue Religion bekämpfen stehen einem doppelten Problem gegenüber — weshalb diese Person eintrat und wie diese Person von ihrer Religion getrennt werden kann. Die erste Frage wird typischerweise mit einer „Gehirnwäsche“-Erklärung beantwortet die wiederum die „Deprogramming“-Lösung zum zweiten Problem rechtfertigt. Das Gehirnwäsche-Szenario „erklärt“, wie ein zu einer neuen Religion Bekehrter dazu kommt, das, was einem Außenstehenden als absurde Glaubensinhalte und Bräuche erscheinen, in sich aufzunehmen und zu verteidigen. Das betreffende Individuum wird als Opfer verschiedener psychologischer und soziologischer Techniken der „Mind-Control“ angesehen. Unter diesen Voraussetzungen bestehen die einzigen Möglichkeiten der Rettung der Person in einer dramatischen Form der Intervention, die das Individuum von dieser Bindung befreit. Zuflucht zu gewalttätigem Kidnapping und Deprogramming oder zu Entmündigung und Einweisung in eine Heilanstalt werden als notwendige Mittel gerechtfertigt, fehlgeleitete und manipulierte Anhänger der neuen religiösen Bewegungen vor sich selbst zu schützen. In der einen oder anderen Form sind Verdächtigungen der Gehirnwäsche und Rechtfertigungen für Deprogramming die Grundlage für alle solchen „Rettungsaktionen“.

20. Solche erzwungenen Abtrünnigen haben dazu beigetragen, die Kontroverse um neue religiöse Bewegungen in der Medienberichterstattung und in rechtlichen Verfahren gegen ihre früheren religiösen Gefolgsleute wegen ihres hohen Aufmerksamkeitswertes neuen Nährboden zu geben. Ihre Verfügbarkeit als „Kult-Überlebende“ macht sie zu Schlagzeilen für die Medien, welche oft die einzige Informationsquelle über neue religiöse Bewegungen sind, die der allgemeinen Öffentlichkeit zur Verfügung steht. In diesem Stadium der Entwicklung wirkt die logische Verbindung zwischen Gehirnwäsche und Deprogramming umgekehrt. Die Tatsache allein, daß der Deprogramming Prozeß „funktioniert“ wird als Beweis von betroffenen Außenstehenden als auch von einigen ehemaligen Mitgliedern dafür verwendet, daß das Gehirnwäsche-Szenarium wahr ist. Die abrupte und radikale Veränderung in ihrem Glauben und Verhalten, die durch Deprogramming hervorgerufen wird, wird als klarer Beweis dafür angesehen, daß das herausgeholte Individuum in Wirklichkeit das Opfer wenn nicht der Gefangene einer böswilligen Religion war. Mehr noch, die Tatsache daß sie „ihr geliebtes Kind zurückbekommen haben“ veranlaßt Verwandte, anderen zu helfen „deren Kinder zurückzubekommen“ indem sie mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit gehen und indem sie Anti-Kult Organisationen unterstützen, von denen sie Unterstützung erhalten haben. Auf diese Art und Weise haben ein kleiner Prozentsatz von Abtrünnigen und ihre „Retter“ das öffentliche Bewußtsein über alle Abtrünnigen von neuen religiösen Bewegungen geformt (oder besser ausgedrückt deformiert).

21. Im Gegensatz zur öffentlichen Meinung ist die überwiegende Mehrheit der Austritte aus neuen religiösen Bewegungen eine Sache freiwilliger Abtrünnigkeit. Mehr noch, die eindeutige Mehrheit derjenigen, die aus freien Stücken austreten, sprechen positiv über bestimmte Aspekte ihrer vergangenen Erfahrung. Während sie bereitwillig die Art und Weise darlegen, wie eine gegebene religiöse Bewegung darin versagte, ihre persönlichen Erwartungen und spirituellen Bedürfnisse zu befriedigen haben viele freiwillige Abtrünnige Wege gefunden, einige wiedererlangte Werte aus ihren ehemaligen religiösen Verbindungen und Aktivitäten zu bewahren.

22. Es gibt aber auch einige freiwillige Abtrünnige von neuen religiösen Bewegungen, die tief verbittert und voller Kritik über ihre früheren religiösen Verbindungen und Aktivitäten sind. Die Dynamik ihrer Trennung von einer ehemals geliebten religiösen Gruppe entspricht einer verbitterten ehelichen Trennung und Scheidung. Sowohl Ehe als auch Religion verlangen ein bedeutendes Maß an Bindung. Je größer die Bindung um so traumatischer die Trennung. Je länger die Bindung um so größer ist die Notwendigkeit, andere für die fehlgeschlagene Beziehung verantwortlich zu machen. Lang andauernde und tief engagierte Mitglieder von neuen religiösen Bewegungen, die im Lauf der Zeit in Bezug auf ihre Religion Ernüchterung erfahren, werfen oft alle Beschuldigung auf ihrer vorherigen religiösen Verbindungen und Aktivitäten. Sie machen aus kleinen Fehlern riesige Bösartigkeiten. Sie machen aus persönlichen Enttäuschungen bösartigen Verrat. Sie erzählen unglaubliche Lügen um ihrer früheren Religion zu schaden. Es überrascht daher nicht, daß diese Abtrünnigen nach vollendeten Tatsachen das gleiche Gehirnwäsche-Szenarium gutheißen, das gewöhnlich beschworen wird, um gewaltsame Lösung von neuen religiösen Bewegungen zu rechtfertigen.

2. Taktiken des Wiedereintritts

23. Loslösung von ehemaligen religiösen Verbindungen ist nur die Hälfte des Prozesses der Zurückweisung jemandes‘ Glauben an eine neue religiöse Bewegung. Der Abtrünnige, ob nun freiwillig oder erzwungen, sieht sich mit der schrecklichen Aufgabe konfrontiert, sich der herrschenden Kultur anzuschließen und eine neue Identität und Weltsicht zu formulieren. Wiedereintritt bedeutet in den seltensten Fällen einfach zu seinem vorherigen Lebensstil und Weltsicht zurückzukehren, den/die man vor dem Eintritt hatte. Der/die „verlorene“ Sohn oder Tochter kommt als andere Person zurück, bringt eine ganze Reihe von Erfahrungen mit, die irgendwie erklärt und in eine neue psychologische und soziale Situation integriert erden müssen. Dieser Übergang wird oft durch Familiensysteme, soziale Netzwerke, religiöse Gruppen, Ausbildungsanstalten und Anti-Kult Organisationen beeinflußt. Es überrascht daher nicht, daß der Einfluß dieser Gruppen die Interpretation des Abtrünnigen seiner vergangenen religiösen Aktivitäten und Verbindungen gründlich färbt.

24. Ohne Rücksicht auf die Art und Weise ihres Austritts müssen Abtrünnige sowohl ihre frühere Konversion zu und die darauf folgende Abkehr von einer nicht-traditionellen religiösen Bewegung in Betracht ziehen. Sie erhalten oftmals die gesuchten Selbstrechtfertigungen von Anti-Kult Organisationen oder fundamentalistischen religiösen Gruppen, von denen ihn beide mit der Gehirnwäsche-Erklärung versorgen um seinen plötzlichen Beitritt als auch den genauso plötzlichen Austritt aus einer neuen religiösen Bewegung zu erklären. Die Information, die von diesen Gruppen gegeben wird, ist gewöhnlich in höchstem Maße irrational und heftig gegen die Organisation, die verlassen wurde, voreingenommen. Genauer ausgedrückt stellen diese Gruppen eine lingua franca zum Erzählen ihrer Geschichte der Verführung und Befreiung zur Verfügung. Zahlreiche Sozialwissenschaftler haben darauf hingewiesen, daß diese Biographien der „Kult-Überlebenden“ in höchstem Maße stilisierte Wiedergaben sind, die den Einfluß geliehener Szenarios der Gefangennahme und Befreiung Hohn Hohn sprechen – jede Erzählung eine eingeübte Erzählung von sozialer Isolation, emotionaler Manipulation, physischer Entbehrung, wirtschaftlicher Ausbeutung und hypnotischer Kontrolle. Diese „Greuelmärchen“ dienen sowohl der Entschuldigung des einzelnen Abtrünnigen als auch der Anklage der neuen Religion wegen irrationalen Glaubensinhalten und unmoralischem Verhalten. Sie nähren und formen auch die Vorstellungen der Öffentlichkeit über die neuen Religionen als gefährliche Bedrohungen für die Religionsfreiheit und die öffentliche Ordnung. Angesichts dieser negativen Berichterstattung werden auch diejenigen Abtrünnigen, die nicht unter den direkten Einfluß von Anti-Kult Organisationen oder fundamentalistischen religiösen Gruppen fallen, oft durch deren negative Beschreibung der Religion, die sie hinter sich gelassen haben, beeinflußt.

V. SCHLUSSFOLGERUNGEN

25. Die obige Analyse zeigt deutlich, daß es zwar ein gewisses Vorkommen an Abtrünnigkeit in den neuen religiösen Bewegungen gibt, daß aber die überwältigende Mehrheit derjenigen Leute, die sich von diesen non-konformistischen Religionen lossagen, keine dauernden Haßgefühle gegen ihre vergangene religiöse Verbindung und Aktivität hegen. Während sie freimütig die Art und Weise, wie ihre religiösen Bedürfnisse und Hoffnungen enttäuscht wurden, bekennen, waren sie in der Lage, auch positive Aspekte und Werte ihre vergangenen Erfahrungen zu erkennen. Im Gegensatz dazu gibt es eine viel kleinere Anzahl von Abtrünnigen, die vollständig damit beschäftigt ist, die religiöse Gemeinschaft, der gegenüber sie einmal loyal waren, zu diskreditieren wenn nicht zu zerstören. In den meisten Fällen wurden diese Abtrünnigen entweder gewaltsam von ihrer religiösen Gemeinschaft durch die Intervention von Familienmitgliedern oder Anti-Kultgruppen getrennt oder aber sie kamen nach ihrer eigenen freiwilligen Trennung von einer neuen religiösen Gruppe bald unter den Einfluß von Anti-Kultgruppen oder -Literatur.

26. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß diese eifrigen und starrköpfigen Gegner der neuen Religionen der Öffentlichkeit, der Wissenschaft und den Gerichten durch ihre leichte Verfügbarkeit und ihren Eifer zur Zeugenaussage gegen ihre frühere religiöse Verbindung und Aktivität eine verdrehte Ansicht der neuen Religionen präsentieren. Solche Abtrünnigen handeln immer im Rahmen eines Szenariums, das sie selbst reinwäscht, indem es die Verantwortung für ihre Taten der religiösen Gruppe in die Schuhe schiebt. In der Tat wurden die verschiedenen Gehirnwäsche-Szenarums, die den neuen religiösen Bewegungen so oft vorgeworfen wurden, lediglich als berechnende Versuche, den Glauben und die Praktiken unkonventioneller Religionen in den Augen von Regierungsbehörden und der öffentlichen Meinung zu diskreditieren, durch Sozialwissenschaftler und Religionsgelehrte in der überwältigenden Mehrheit zurückgewiesen. Solche Abtrünnige können kaum als verläßliche Informanten von verantwortlichen Journalisten, Gelehrten oder Juristen angesehen werden. Sogar die Erzählungen derer, die sich freiwillig und ohne Rachegelüste trennten, müssen mit Vorsicht genossen werden, da sie ihre vergangenen religiösen Erfahrungen vom Standpunkt eines gegenwärtigen Versuchs aus, ihr eigenes Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl wiederherzustellen, interpretieren. Kurz ausgedrückt ist es so, daß Abtrünnige von neuen Religionen nicht den Anforderungen an persönliche Objektivität, persönliche Kompetenz und persönliche Objektivität, die für Gutachteraussagen notwendig sind, entsprechen.

Gefertigt am 24. Januar 1995 in Dallas, Texas

Lonnie D. Kliever

Die Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen von Abtrünnigen über neue religiöse Bewegungen

In Französisch:

La fiabilité du témoignage d’un apostat à propos des nouveaux mouvements religieux


In Englisch:

The Reliability of Apostate Testimony about New Religious Movements

In Spanisch:

La confiabilidad del testimonio de apóstatas sobre nuevos movimientos religiosos