Alejandro Frigerio – Scientology und zeitgenössische Definitionen des Religionsbegriffs in den Sozialwissenschaften

Seit der Mitte unseres Jahrhunderts ist in den westlichen Gesellschaften ein erneuertes Interesse an der Vielfalt der Ausdrucksformen religiöser Phänomene zu beobachten. Das verstärkte Interesse beruht auf folgenden Faktoren:

* der Entstehung oder Entwicklung neuer Religionen, besonders in den USA (wie z. B. die Internationale Gesellschaft für Krishna-Bewußtsein, die Scientology-Kirche und die Divine Light Mission).

* der Ausbreitung von Religionen, die in bestimmten geographischen Gebieten bereits etabliert waren, in neue Gebiete. (Als Beispiele lassen sich einige östliche Religionen anführen, die in Amerika und Europa Einzug hielten; des weiteren das Vordringen der Pfingstbewegung, der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage und der Zeugen Jehovas aus den USA nach Südamerika und Europa; die Ausbreitung der Santeria aus Kuba in die USA und in Länder Mittelamerikas sowie der Umbanda aus Brasilien nach Uruguay, Paraguay, Argentinien, Chile und in geringerem Grade auch in die USA und nach Europa.)

* den „Erweckungsbewegungen“ etablierter Religionen (zum Beispiel die charismatischen Bekehrungen durch Evangelisten und im Katholizismus, die Entstehung spiritualistischer katholischer Gruppen usw.).

* der Entstehung einer vielfältigen, nichtzentralisierten spirituellen Subkultur (die zusammenfassend als „New Age“ bezeichnet wird).

Das Interesse an der religiösen Vielfalt hat alte Diskussionen in den Sozialwissenschaften wiederaufleben lassen. Dies führte zur Aufstellung präziserer Definitionen religiöser Phänomene. Je nach ihrem unmittelbaren theoretischen Interessenfeld haben bestimmte Gruppen von Sozialwissenschaftlern unterschiedliche Arten der Begriffsbestimmung bevorzugt.

Anzutreffen sind folgende Typen der Definition des Religionsbegriffs:

Essentielle Definitionen des Religionsbegriffs, mit denen eine Merkmalsbestimmung „von innen heraus“ oder im Hinblick auf die inhärente Bedeutung angestrebt wird.

Vergleichende Definitionen des Religionsbegriffs, die das Thema durch differenzierende Abgrenzung gegen andere Arten von Bedeutungssystemen angehen.

Funktionale Definitionen des Religionsbegriffs, welche die Merkmale der Religion nach ihren Auswirkungen auf andere Bereiche des gesellschaftlichen und persönlichen Lebens bestimmen.

Analytische Definitionen des Religionsbegriffs, bei denen die Merkmalsbestimmung anhand der kennzeichnenden Aspekte erfolgt, die religiöse Phänomene aufweisen.

Emische (kulturimmanente) Definitionen des Religionsbegriffs, die solche Phänomene als religiös einstufen, die von den Mitgliedern der betreffenden Gesellschaft oder ihren Institutionen als religiös betrachtet werden.

Vom Standpunkt der Sozialwissenschaften läßt sich der Nachweis, ob es sich bei einem System von Glaubensnormen und Praktiken um eine Religion handelt, nur unter Beachtung der Vielfalt an Religionsbegriffen erbringen, die in den aktuellen Erörterungen der betroffenen Fachbereiche gegeben ist.

Auf den folgenden Seiten wollen wir feststellen, ob Scientology eine Religion ist. Wir werden dabei die unterschiedlichen Definitionen dieses Terminus in den heutigen Sozialwissenschaften berücksichtigen.

i. SCIENTOLOGY UNTER DEM ASPEKT DER ESSENTIELLEN DEFINITIONEN DES RELIGIONSBEGRIFFS

Die essentiellen Definitionen des Religionsbegriffs orientieren sich an den inhärenten Merkmalen, welche die religiösen Erfahrungen für die Anhänger einer Religion aufweisen. Aus dieser Perspektive werden diejenigen Erfahrungen als religiös definiert, die vom einzelnen als außergewöhnlich und transzendent und als deutlich verschieden von der gewöhnlich wahrgenommenen Alltagsrealität empfunden werden. Wer solche Erfahrungen gemacht hat, kann sie nicht anhand der Begriffe und Theorien erklären, die zur Bestimmung und Erklärung der Ereignisse seines Lebens normalerweise dienlich sind. Erlebnisse dieser Art scheinen dem Betreffenden jedoch unwiderlegbar und wirken realer als die Wahrnehmungsinhalte des täglichen Lebens.

Peter Berger sagt hierzu: „Im Kontext der religiösen Erfahrung verliert die Realität des täglichen Lebens auf dramatische Weise ihren Status als höchste Wirklichkeit. Sie erscheint vielmehr nur als Vorzimmer zu einer anderen Wirklichkeit, die völlig anders geartet und nichtsdestoweniger für den einzelnen von enormer Bedeutung ist. Aufgrund der so veränderten Realitätswahrnehmung erscheinen alle weltlichen Vorgänge der Alltagsrealität drastisch in ihrer Bedeutung reduziert und geradezu trivial. Sie reduzieren sich, in den Worten des Predigers Salomo, zu Nichtigkeit.“ (Berger 1974, 130-131)

Aus dieser Perspektive wird Religion als das Reich des Außergewöhnlichen, des Heiligen, „des Anderen“ definiert. Anders gesagt, Religion ist die Sphäre der Aktivität und des menschlichen Denkens, die ihrerseits aus Erfahrungen schöpft, welche den einzelnen mit etwas Unerklärlichem, Wunderbarem, Mysteriösem und Majestätischem in Berührung bringen, das sich der Erklärung durch die Rationalität und die Theorien entzieht, mittels derer man sich der Ereignisse seines Lebens gemeinhin bewußt wird. Als religiöse Institutionen werden diejenigen Institutionen bezeichnet, die religiöse Erfahrungen ordnen, definieren und erklären.

Die Frage, ob sich Scientology in die bestehenden Religionsbegriffe einfügt, bedeutet demzufolge: Wir wollen untersuchen, ob Scientology eine Art außergewöhnliche Erfahrung zum Gegenstand hat, regelt oder erklärt, die den einzelnen mit einer wunderbaren und überraschenden Wirklichkeit anderer Ordnung in Berührung bringt. Nach meinem Verständnis ist diese Frage zu bejahen.

Wer sich um das Verständnis ihrer Praktiken redlich bemüht, dem verheißt die Scientology nicht nur die Lösung von Problemen und das Erreichen alltäglicher Ziele, sondern darüber hinaus den stufenweisen Aufstieg zu dauerhaftem Glück und neuen Bewußtseinsebenen, die vorher nie für möglich gehalten wurden. Diese Erhöhung der Bewußtseinsebenen gipfelt in einer Erfahrung völliger Freiheit, in der der einzelne die Fähigkeit besitzt, das aus Materie, Energie, Raum und Zeit bestehende physikalische Universum zu kontrollieren und vollkommene Allwissenheit zu erlangen. Das Bewußtsein über Leben und Tod und das Bewußtsein über das Universum erschienen dem einzelnen somit in völliger Klarheit. Die Scientology-Kirche erklärt hierzu:

„Der Mensch besteht aus drei Teilen: dem Körper, etwas mehr als eine Maschine; dem Verstand, der in den analytischen und den reaktiven Verstand unterteilt ist, Berechnungen anstellt und etwas mehr als eine Sammlung von Bildern enthält; und dem Thetan, das Leben selbst, das geistige Wesen, das den Körper belebt … Der springende Punkt ist, daß der Thetan sowohl dem Körper als auch dem Verstand übergeordnet ist. … Aber wo sind seine Grenzen? Wie hoch kann er letzten Endes aufsteigen?

Der Suche nach diesen Antworten entstammt das Fachgebiet der Scientology, und die Türe öffnete sich der vollständigen Verwirklichung geistigen Potentials.

Dieser Zustand wird ‚Operating Thetan‘ genannt … Obwohl der Thetan keine Masse, keine Bewegung, keine Wellenlänge und keine Position in Raum oder Zeit hat, ist er nichtsdestoweniger fähig, alles zu erreichen. Somit kann man den Operating Thetan oder OT als jemanden definieren, der sich in einem Zustand ‚wissentlicher und willentlicher Ursache über Leben, Denken, Materie, Energie, Raum und Zeit‘ befindet.

Es hat also seinen Grund, wenn von Scientology gesagt wurde, daß sie die grundlegende Hoffnung des Menschen auf geistige Freiheit verwirklicht – indem sie die im Lauf der Zeiten angehäuften Behinderungen abstreift und eine Rückkehr in unseren ursprünglichen Zustand bewirkt, mit all den Fähigkeiten, die uns von Natur aus zu eigen sind.“ (Das Scientology-Handbuch, Seite XXIII).

Eine Veröffentlichung der Scientology-Kirche beschreibt die Ergebnisse, die durch Erreichen der höchsten OT-Stufe erlangt werden können, folgendermaßen:

„Diese Wahrheiten sind für Ihr Überleben als Operating Thetan und Ihre Fähigkeit, völlige geistige Freiheit zu erreichen, von wesentlicher Bedeutung. Ihre Vorstellung von Zeit, Zukunft und Vergangenheit wird sich wiederholt ändern, und Sie werden eine unvergleichliche und neue Ebene der Stabilität und des Bewußtseins erfahren, die Ihnen in diesem und in zukünftigen Leben erhalten bleibt.“ (Source-Magazin 99, 21)

Der Unterschied zwischen dieser Erfahrung der Freiheit und Allwissenheit einerseits und der üblichen Erfahrung des Menschseins andererseits ist klar. Darüber hinaus lehrt die Scientology, daß derjenige, der den vorgesteckten Pfad der Scientology beschreitet, das Phänomen der „Exteriorisation“ erleben kann. Damit ist gemeint, daß der Thetan (Geist) den Körper verläßt und in einer vom Fleisch unabhängigen Form existiert. Durch die Exteriorisation wäre die Person in der Lage, ohne die Augen des Körpers zu sehen, ohne dessen Ohren zu hören und ohne dessen Hände zu fühlen, wodurch sie die Sicherheit erhält, sie selbst zu sein (der Thetan) und nicht ihr Körper. Nach den Lehren der Scientology wird durch die Exteriorisation des Thetans offensichtlich, daß der Geist unsterblich und mit Fähigkeiten ausgestattet ist, die das nach gewöhnlichen Überlegungen vorhersagbare Maß übertreffen:

„Der Thetan kann den Körper verlassen und unabhängig vom Fleisch existieren. Wenn man exteriorisiert ist, kann man ohne die physischen Augen sehen, ohne die physischen Ohren hören und ohne die physischen Hände fühlen. Früher hat der Mensch über diese Trennung von seinem Verstand und Körper sehr wenig gewußt. Doch in der Scientology kann man die Exteriorisation erreichen und dadurch die Gewißheit erlangen, man selbst zu sein und nicht sein Körper.“ (Was ist Scientology?, 1993, 147)

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß religiöse Erfahrungen, die ungewöhnlich und nicht alltäglich sind, in der Scientology eine zentrale Rolle spielen. Dies gilt ähnlich für die zahlreichen Religionen, die weltweit die „religiöse Gärung“ der letzten Jahrzehnte ausmachen (die Religionen östlichen Ursprungs, die Pfingstbewegung, die afroamerikanischen Religionen und andere). Wie in anderen Religionen sind diese Erfahrungen bei der Scientology zum einen durch eine Lehre motiviert, geregelt und interpretiert, während sie zum anderen als Beweis für die Richtigkeit der von der Gruppe vertretenen kosmischen Vision gewertet werden. Somit erfüllt Scientology die essentiellen Definitionen des Religionsbegriffs, die in den Sozialwissenschaften derzeit gebräuchlich sind.

ii. SCIENTOLOGY UNTER DEM ASPEKT DER VERGLEICHENDEN DEFINITIONEN DES RELIGIONSBEGRIFFS

Als Ansatz zur Definition des Religionsbegriffs widmeten sich einige Autoren der Unterscheidung der Religionen von anderen Bedeutungssystemen (im Sinne eines Gedankenguts oder einer theoretischen Tradition, die der Realität und den Erfahrungen des Lebens Bedeutung zu verleihen suchen). So unterscheiden z. B. Stark und Gluck (1965) zwischen den „humanistischen Perspektiven“, die Versuche zur Sinngebung des menschlichen Lebens darstellen, und Religionen, die im Gegensatz hierzu behaupten, Wege zur Ergründung der wahren Bedeutung des Lebens entdeckt oder entwickelt zu haben. Der Unterschied zwischen den verschiedenartigen Systemen sei folgender: Im Falle der humanistischen Perspektiven wird bewußt versucht, dem Leben eine Bedeutung zu verleihen, auf die man sich in relativ freier Entscheidung einigen kann. Im Falle der Religionen hingegen wird davon ausgegangen, das Leben habe einen präexistenten, d. h. von vornherein existierenden Sinn, welcher der gewünschten Sinngebung des einzelnen oder der gesellschaftlichen Gruppe vorausgeht, und es sei möglich, diesen vorgegebenen Sinn zu akzeptieren. Hierzu schreibt Reginald Bibby:

„Religiöse Perspektiven implizieren die Möglichkeit, daß unser Dasein eine Bedeutung hat, die der von uns gewählten menschlichen Sinngebung vorausgeht. Im Gegensatz dazu legt die humanistische Perspektive die Suche nach dem Sinn des Daseins beiseite und widmet sich statt dessen einer neuen Beschäftigung, nämlich dem Dasein einen Sinn zu geben.“ (Bibby 1983, 103)

Aus dieser Perspektive bedeutet die Frage, ob Scientology eine Religion ist, daß wir untersuchen wollen, ob sie für das menschliche Dasein eine präexistente Bedeutung postuliert, die als wahr und unveränderlich angesehen wird. In dieser Hinsicht ist festzustellen, daß der Mensch gemäß der Scientology als geistiges Wesen definiert wird. Es wird nachdrücklich erklärt, daß der Mensch keine Seele hat, sondern daß das Individuum in Wirklichkeit eine Seele bzw. ein geistiges Wesen ist. Das geistige Wesen wird „Thetan“ genannt, eine Bezeichnung, die von dem griechischen Buchstaben Theta abgeleitet wird. In der Scientology wird behauptet, daß der einzelne selbst als geistiges Wesen existiert. Die künstlerische Begabung, die seelische Stärke des Menschen und sein persönlicher Charakter gelten allesamt als Manifestationen der geistigen Natur der Person selbst. Die Person selbst ist der Thetan.

Nach den Lehren der Scientology besteht der Mensch aus folgenden Teilen: einem Körper, d. h. einer organisierten physischen Substanz oder Struktur; einem Verstand, der aus Bildern und aus Aufzeichnungen von Gedanken, Schlußfolgerungen, Entscheidungen, Beobachtungen und Wahrnehmungen besteht; und dem Thetan. Der Thetan wird als der Erschaffer von Dingen betrachtet. Er ist auch ohne den Verstand und den Körper belebt und lebendig; den Verstand benutzt er als Kontrollsystem zwischen sich selbst und dem physikalischen Universum. Scientologen glauben, daß der Mensch ein Thetan ist und daß der Thetan die Quelle aller Schöpfung, unsterblich und das Leben selbst ist, ausgestattet mit potentiell unendlicher Schöpferkraft. Der Thetan besitze potentiell die Fähigkeit, wenn er nicht Teil des physikalischen Universums ist, dieses aus Materie, Energie, Raum und Zeit bestehende Universum zu kontrollieren.

Andererseits erklärt Scientology ausdrücklich, daß die Ausbildung in ihrer Lehre zu einem Verständnis des Menschen, seiner Potentiale und seiner Schwierigkeiten führt, das über die Inhalte des in den Geistes- oder Sozialwissenschaften vermittelten Lehrstoffs weit hinausgeht. Durch die Kenntnis der Scientology-Prinzipien würde man beispielsweise verstehen können, warum manche Menschen erfolgreich sind, während andere scheitern, warum der eine Mensch glücklich ist, der andere nicht, und wieso zwischenmenschliche Beziehungen stabil sind oder kaputtgehen. Durch die Ausbildung in den Lehren der Scientology würde demnach ein Mensch, der sich gebührend darum bemüht, das Geheimnis des Lebens enträtseln und zu absoluter Erkenntnis seiner Unsterblichkeit gelangen können. Durch die von der Scientology-Kirche verbreiteten Lehren L. Ron Hubbards könne somit dem einzelnen die Entfaltung all seiner Fähigkeiten auf den sogenannten „acht Dynamiken“ gelingen, wie sie in der kosmischen Vision der Kirche postuliert sind. Diese „Dynamiken“, d. h. die Bereiche, in denen menschliches Streben zum Ausdruck kommt, sind:

1. das Individuum, 2. Familie und Sexualität, 3. Gruppen, 4. die Menschheit, 5. alle Lebensformen, 6. das physikalische Universum, 7. alles Geistige und 8. Unendlichkeit oder das höchste Wesen (Scientology 0-8, Das Buch der Grundlagen, 1990, 25-26)

Die Lehren der Scientology-Kirche haben das Ziel, die Bewußtseinsstufe des einzelnen zu erhöhen, so daß er alle Dynamiken des Lebens kontrollieren und beeinflussen kann.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Scientology, wie die meisten Religionen, den Anspruch erhebt, die Geheimnisse des Lebens enthüllt zu haben. Sie legt keine willkürliche Bedeutung für das menschliche Dasein vor, sondern behauptet, seine wahre Bedeutung entdeckt zu haben. Sie unterscheidet sich damit von humanistischen Perspektiven: Es werden von ihr keine ethischen Normen oder Werte aufgestellt oder vorgeschlagen, um dem menschlichen Leben einen Sinn zu geben. Sie erhebt vielmehr den Anspruch, wirklich zu wissen, was der Mensch ist und worin der Sinn seines Lebens liegt. Gleichzeitig – und obwohl sie ein Vokabular gebraucht, das dem der Wissenschaften ähnelt – läßt sie sich von jenen eindeutig unterscheiden, da sie nicht auf eine funktionelle Beschreibung von Vorgängen abzielt, keine Fragestellungen formuliert und auch keine Hypothese zu ihrer etwaigen Widerlegung und Modifizierung anbietet. Sie erhebt vielmehr den Anspruch, die wahren Ursachen entdeckt zu haben, und fordert dazu auf, an ihren Erkenntnissen teilzuhaben.

iii. SCIENTOLOGY UNTER DEM ASPEKT DER FUNKTIONALEN DEFINITIONEN DES RELIGIONSBEGRIFFS

Eine andere Definitionsklasse charakterisiert Religionen nach ihren Auswirkungen auf andere Bereiche des Lebens. Die ersten funktionalen Definitionen des Religionsbegriffs entstammten dem Werk Émile Durkheims und betonten das durch religiöse Zeremonien hervorgerufene Solidaritätsgefühl und die Auswirkungen der Religion auf den sozialen Zusammenhalt und die Geschlossenheit der Gemeinschaft. Diese Begriffsbestimmungen sind auf der Grundlage kritisiert worden, daß einerseits verschiedene Religionen oft in ein und derselben Gesellschaft existieren, wodurch die kohäsive Funktion der Religion für die Gesellschaft als ganze in Frage gestellt ist, während andererseits auch nichtreligiöse Symbole und Rituale, zum Beispiel nationaler, staatlicher oder ethnischer Art, die gleiche Funktion der Schaffung solidarischer Bindekräfte und eines starken Gemeinschaftsgefühls erfüllen können.

In der Tat definiert heute eine bestimmte Anzahl Sozialwissenschaftler den Religionsbegriff nicht nach den Auswirkungen der Religion auf das Sozialleben, sondern auf das persönliche Leben des einzelnen. Die betreffenden Autoren definieren Religion als „eine Kombination von Formen und symbolischen Handlungen, die den einzelnen mit den grundlegenden Bedingungen seines Daseins in Verbindung setzen“ (Bellah 1964, 358), oder als „ein System von Glaubensanschauungen und Praktiken, mittels deren eine Gruppe von Menschen den fundamentalen Problemen des Lebens begegnet“ (Yinger 1970, 7). Zu den fundamentalen Problemen in diesem Sinne zählen die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit, die Erfahrung des Leidens und das Bewußtwerden eines Sinn- und Bedeutungsmangels im Leben. Religionen liefern für solche Probleme des menschlichen Daseins Antworten von zweierlei Art. Zum einen bieten sie Erklärungen dafür an, so daß ihnen eine Bedeutung verliehen wird. Zum anderen legen sie Methoden und Handlungsprogramme vor, die auf die Überwindung der Probleme abzielen.

Aus zeitgenössischer funktionalistischer Perspektive ist eine Religion somit eine Kombination von Glaubenselementen, die fundamentalen Problemen wie Ungerechtigkeit, Leid und der Suche nach dem Sinn des Lebens Bedeutung zuordnen, sowie eine Kombination von Praktiken, mit deren Hilfe solchen Problemen in der Absicht begegnet wird, sie zu überwinden. Wenn wir die Frage stellen, ob Scientology dieser Definition entspricht, so müssen wir untersuchen, ob sie eine Kombination von Praktiken anbietet, die auf die Überwindung dieser fundamentalen Probleme des Lebens ausgerichtet sind, und ob sie ein System von Glaubenselementen vorlegt, die zur Erklärung solcher Probleme dienen.

In dieser Hinsicht läßt sich zunächst einmal die Feststellung treffen, daß die zentrale Form der Ausübung von Scientology, nämlich das Auditing, im wesentlichen als ein Weg zur Überwindung des Leidens angeboten wird. Scientology erklärt, daß durch aktive und freiwillige Teilnahme am Auditing die Fähigkeit der Person verbessert wird, den Problemen des Daseins zu begegnen, sie zu lösen und dabei stetig höhere Ebenen des Bewußtseins und des spirituellen Wohlbefindens zu erreichen.

Durch die Dienste der Scientology soll der einzelne so weit hinaufgeführt werden, daß er in der Lage ist, die Faktoren seines eigenen Lebens in Ordnung zu bringen und seine Probleme zu lösen. Laut Scientology haben die Spannungen des Lebens zur Folge, daß der einzelne seine Aufmerksamkeit auf die materielle Welt fixiert und sowohl das Bewußtsein seiner selbst als geistiges Wesen als auch sein Bewußtsein der Umgebung dadurch reduziert wird. Diese Verminderung seines Bewußtseins hätte zur Folge, daß Probleme entstehen, wie etwa Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen, Leid, Krankheit und Unglücklichsein. Das Ziel der Scientology besteht darin, die Verminderung des Bewußtseins rückgängig zu machen und das Individuum gleichsam aufzuwecken. Sie legt daher Lösungen für die fundamentalen Probleme des Lebens vor, indem sie Praktiken bereitstellt, durch die der einzelne sein Bewußtsein und seine Freiheit steigert und Anstand, persönliche Stärke und grundlegende Fähigkeiten für sich wiederherstellt. Wer ein bewußteres, wacheres Leben führt, würde mehr verstehen und sein Leben besser meistern können.

Durch Auditing und Ausbildung in der Scientology wird nach dieser Lehre die Erkenntnis herbeigeführt, daß das Leben wertvoll ist und daß man in Harmonie mit seinen Mitmenschen ein erfülltes Leben führen kann.

Scientology geht davon aus, daß ihre Anhänger sich durch die Ausübung ihres Glaubens und durch die Ausbildung in ihrer Lehre von Leiden wie irrationalen Sorgen und seelisch-körperlichem Leid befreien werden. Im Rahmen der Ergebnisse wird auch erwartet, daß sie gelassener werden, besser ins Gleichgewicht kommen, tatkräftiger und kommunikationsfreudiger werden, ihre Beziehungen zu anderen verbessern und lebendiger gestalten, ihre persönlichen Ziele erreichen, ihre Zweifel und Hemmungen ablegen und Sicherheit und Selbstvertrauen erreichen, Freude empfinden und klar erkennen können, wie man glücklich wird. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sich Scientology als ein Mittel präsentiert, um das Leiden und die ungleiche Verteilung persönlicher Fähigkeiten zu überwinden.

Ein weiteres Element, das in den heutigen funktionalen Definitionen des Religionsbegriffes enthalten ist, besteht darin, den Grundproblemen des Lebens eine Bedeutung zu verleihen oder sie zu erklären. Indem sie die Gründe des menschlichen Leidens erklären, lindern die meisten Religionen auf indirekte Weise die Spannungen, die das Leiden hervorruft. Den Anhängern solcher Religionen erscheinen die Probleme des Lebens, indem sie Bedeutung erhalten, weniger sinnlos, ungerecht und unerklärlich. Die doktrinären Erklärungen des Leidens bilden gleichzeitig eine Grundlage für die Rechtfertigung religiöser Praktiken, die darauf angelegt sind, solches Leiden zu überwinden. Die Ursachen der Probleme des Lebens zu postulieren kann als Ausgangsbasis für die Entwicklung von Handlungsprogrammen zu ihrer Überwindung angesehen werden.

In dieser Hinsicht ist festzustellen, daß Scientology auch Antworten auf das menschliche Leid vorlegt, indem sie eine Erklärung liefert. Die Lehre der Scientology erläutert in allen Einzelheiten die Gründe des Leidens. Nach dieser Lehre ist die Person selbst im Grunde gut und glücklich, während die Gründe des Leidens im „reaktiven Verstand“ zu finden sind, der vom analytischen Verstand eindeutig unterschieden wird und aus „Engrammen“ besteht. In seinem Buch Die dynamischen Kräfte des Lebens erklärt der Stifter, L. Ron Hubbard:

„Der Mensch ist kein Tier, das bloß reagiert. Er hat die Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Er verfügt über Willenskraft. Er hat gewöhnlich hohe analytische Fähigkeiten. Er ist nur dann vernünftig und glücklich und eine integrale Einheit, wenn er seine eigene Grundpersönlichkeit ist. Der wünschenswerteste Zustand eines Menschen ist vollkommene Selbstbestimmung …

Der reaktive Verstand besteht aus einer Ansammlung von Erfahrungen, die während unanalytischer Augenblicke aufgenommen wurden und in denen Schmerz und eine tatsächliche oder vermeintliche Bedrohung des Überlebens der Person enthalten ist. … Wenn Verletzung oder Krankheit den analytischen Verstand verdrängen, wobei sie das hervorrufen, was allgemein als ‚Bewußtlosigkeit‘ bekannt ist, und wenn körperlicher Schmerz und eine Bedrohung für das Überleben des Organismus vorhanden sind, dann trägt das Individuum ein Engramm davon … Indem man den reaktiven Verstand um seinen schmerzhaften Inhalt aus der Vergangenheit erleichtert, kann man dem analytischen Verstand die volle Befehlsgewalt über den Organismus geben. In dem Augenblick, wo eine Person oder eine Gruppe diese Fähigkeit gewinnt, gewinnt sie Selbstbestimmung. Solange sie einen reaktiven Verstand besitzt, wird das unvernünftige Verhalten bestehenbleiben.“ (Hubbard 1990, 31-32)

In der Scientology gilt der Mensch daher im Grunde als gut, glücklich und in sich ausgewogen, während der Ursprung seines Unglücklichseins in Engrammen liegt. Das Verfahren des Auditings wird daher als das einzige geeignete Mittel betrachtet, um seine Engramme zu beseitigen und es ihm zu ermöglichen, „Clear“ zu werden, d. h., seinen ursprünglichen Zustand als „Grundpersönlichkeit“ wiederherzustellen. Beide Termini bedeuten: „das nichtaberrierte Selbst in vollkommener Integration und in einem Zustand der größtmöglichen Vernunft. Ein Clear ist jemand, der durch Auditing zur Grundpersönlichkeit geworden ist … Die Grundpersönlichkeit spricht ausnahmslos auf allen Dynamiken an und ist von Grund auf ‚gut‘… Die Tugenden und Vorzüge der Grundpersönlichkeit sind zahllos. Vorsätzliche Laster und destruktive Dramatisationen sind bei ihr nicht vorhanden. Sie ist kooperativ, konstruktiv und zielstrebig. Kurz gesagt, sie entspricht sehr weitgehend dem Ideal, das die Menschheit als ein Ideal anerkennt. Dies ist ein notwendiger Teil des Wissens, das ein Auditor in seiner Arbeit braucht. Denn Abweichungen davon zeigen die Existenz von Aberration an. Solche Abweichungen sind unnatürlich und aufgezwungen und haben mit der Selbstbestimmung des einzelnen nichts zu tun.“ (Hubbard 1990, 31-32)

Zusammenfassend sei gesagt, daß Scientology eine Antwort auf das menschliche Leiden bereitstellt, indem sie – wie die Mehrzahl der religiösen Traditionen – eine Erklärung liefert und auf der Grundlage dieser Erklärung eine Abhilfe postuliert. Die Erklärung des menschlichen Leidens wird in „Engrammen“ gesehen. Engramme werden als unbekannte, Macht und Einfluß über die Person ausübende geistige Eindrucksbilder beschrieben, die Masse und Energie besitzen. Die zur Überwindung des Leidens vorgelegte Hauptlösung besteht aus der Praxis des Auditings, das es möglich macht, Engramme zu finden und zu besiegen. Das Auditing wird als ein Weg zur Überwindung des Leidens präsentiert. Denn es geht von der Voraussetzung aus, daß die Person durch ihre aktive und freiwillige Teilnahme am Auditing erfolgreich ihre Fähigkeit verbessern wird, den Problemen ihres Daseins ins Auge zu sehen, sie zu lösen und stetig höhere Stufen des Bewußtseins und des spirituellen Wohlergehens zu erreichen.

Scientology gibt auch eine Antwort auf die Erfahrung der Ungerechtigkeit, wenn es als ungerecht empfunden wird, daß die Fähigkeiten unter den Menschen so ungleich verteilt sind. Denn sie geht davon aus, daß der Verlust von Fähigkeiten zumindest teilweise auf Übertretungen und Verantwortungslosigkeiten der Vergangenheit beruht. Gleichzeitig bietet sie für diesen Verlust eine Lösung und stellt sich als Weg dar, um diese Fähigkeiten wiederzuerlangen. Außerdem bietet Scientology eine Antwort auf die Erfahrung der Sinnlosigkeit des Lebens und die Erfahrung des Todes. Denn sie geht davon aus, daß der Mensch ein unsterbliches geistiges Wesen ist, dessen Erlebensspanne sich über das einzelne Leben hinaus erstreckt, und sie betont, daß der Tod lediglich ein Übergangsstadium ist, das die Person durchschreitet, während sie weiter bei Bewußtsein bleibt. Die Scientology-Kirche erklärt hierzu:

„Es erübrigt sich zu sagen, daß Ethik ein Thema ist, das der Scientologe sehr ernst nimmt. In dem Maße, wie er die Brücke (die ‚Brücke zur völligen Freiheit‘, den Pfad der Scientology) nach oben geht und immer mehr er selbst wird, wird er auch ethischer, aber er betrachtet es auch als eine Angelegenheit persönlicher Verantwortung, die weit über dieses Leben hinaus reicht. Denn anders als der Materialist, der den Tod als das Ende des Lebens, des Gewissens und der Rechenschaftspflicht betrachtet, sieht der Scientologe ihn als ein Übergangsstadium, durch das man seine Vergangenheit mit sich führt – eine Vergangenheit, für die man weiterhin rechenschaftspflichtig ist. Er weiß auch, daß die Fähigkeiten, die er zurückerlangt, zum Teil wegen Übertretungen und Verantwortungslosigkeiten verlorengegangen sind. Daher sind Ehrlichkeit, Integrität, Vertrauen und Anteilnahme für seine Mitmenschen mehr als nur Worte. Sie sind Prinzipien, nach denen es zu leben gilt.“ (Das Scientology-Handbuch, 1994, XXVI)

Scientology entspricht also dem Religionsbegriff, wie er aus funktionalistischer Perspektive gegenwärtig definiert wird. Denn sie stellt ein Gebäude von Glaubenselementen dar, mit deren Hilfe eine Gruppe von Menschen grundlegenden Problemen wie Ungerechtigkeit, Leid und der Suche nach dem Sinn des Lebens eine Bedeutung zuordnet, und sie umfaßt eine Reihe von Praktiken, mittels derer ihre Anhänger solchen Problemen begegnen und sie zu überwinden suchen.

iv. SCIENTOLOGY UNTER DEM ASPEKT DER ANALYTISCHEN DEFINITIONEN DES RELIGIONSBEGRIFFS

Ein anderer in den Sozialwissenschaften heute üblicher Ansatz zur Definition des Religionsbegriffs ist die analytische Vorgehensweise, nämlich eine Beschreibung anhand der verschiedenen Ausdrucksformen, in denen eine Religion in Erscheinung tritt. Aus dieser Perspektive geht man davon aus, daß zwischen allen Religionen beträchtliche Übereinstimmung hinsichtlich der Formen besteht, in denen der religiöse Mensch seine Religiosität zum Ausdruck bringt. Dadurch wird es möglich, die kennzeichnenden Aspekte solcher Religiosität zu bestimmen. Hierzu gehören folgende Aspekte:

a) Übereinstimmung mit den Glaubenssätzen, aus denen die Lehre der Gruppe besteht,

b) Teilnahme an Ritualen und Andachten,

c) die Erfahrung unmittelbarer Berührung mit der höchsten Wirklichkeit,

d) die Aufnahme religiöser Informationen und

e) die Erfahrung, daß Veränderungen oder Ergebnisse im täglichen Leben auftreten, die von den anderen Aspekten der Religiosität hergeleitet werden. (Stark und Gluck 1985)

Die Frage, ob Scientology eine Religion ist, würde aus dieser Sicht eine Untersuchung erfordern, ob die Scientology-Kirche als Institution erwartet, daß ihre Anhänger religiös sind, was bedeuten würde, daß sie in den verschiedenen als universell geltenden Ausdrucksformen Religiosität manifestieren.

iv.i. Übereinstimmung mit einer Lehre

Es ist die These aufgestellt worden, daß religiöse Institutionen von ihren Anhängern Übereinstimmung mit den Prinzipien ihrer Lehre erwarten (Stark und Gluck 1985, 256). In dieser Hinsicht ist festzustellen, daß die Scientology-Kirche eine klar strukturierte, in innerer Wechselbeziehung stehende Lehre vorlegt, so daß die Anhänger sich die Gesamtheit ihrer Glaubenssätze aneignen können. Tatsächlich besteht die Ausübung der Scientology zu gleichen Teilen aus dem Auditing und der Ausbildung in ihren Prinzipien. Die Scientology-Kirche betont, daß durch Auditing zu erkennen ist, wie etwas geschieht, und daß durch die Ausbildung („training“) vermittelt wird, warum es geschieht.

Die in der Ausbildung benutzten Unterlagen bestehen aus Büchern, Veröffentlichungen, Filmen und aufgezeichneten Vorträgen des Stifters der Kirche, die in vorgegebener Reihenfolge studiert werden. Sie genießen den gleichen Status wie die Schriften herkömmlicher Religionen: Sie werden weder interpretiert noch erklärt. Großes Gewicht wird vielmehr darauf gelegt, daß der Anhänger die Worte des Stifters in ihrer „reinen Form“ empfängt. Scientologen glauben, daß Hubbard einen exakten und brauchbaren Pfad zur spirituellen Erlösung gefunden hat. Wenn durch Befolgung einer der festgelegten Praktiken des Stifters der Scientology die erwarteten Ergebnisse nicht eintreten, so liege es daran, daß das Verfahren nicht richtig verstanden oder verkehrt angewendet wurde. Die Möglichkeit, daß die Originalversion der Worte L. Ron Hubbards einen Irrtum enthalten könnte, wird also nicht in Erwägung gezogen.

Die Ausbildung in der Scientology wird von sogenannten „Kursüberwachern“ („supervisors“) geleitet, die als Experten in der Technologie des Studierens gelten und darin geschult sind, die Hindernisse, auf die ihre Studenten stoßen können, zu finden und zu beheben. Im Rahmen seiner festgelegten Aufgaben soll der Kursüberwacher auch sicherstellen, daß die Lehre richtig vermittelt wird und daß keine unterschiedlichen Versionen oder abweichenden Auslegungen aus ihr hervorgehen. Der Kursüberwacher hält keine Vorträge und schlägt denen, die die Lehre studieren, nicht seine eigene Lesart des Stoffes vor. Um Abänderungen des Originals zu verhindern, ist es dem Kursüberwacher streng verboten, irgendeine Art mündliche Auslegung des Materials anzubieten.

iv.ii. Teilnahme an Ritualen und Andachten

Eine weitere Ausdrucksform der Religiosität, die Religionen von ihren Anhängern offenbar erwarten, ist die Teilnahme an Ritualen und Andachten. In dieser Hinsicht läßt sich zunächst einmal feststellen, daß die Scientology-Kirche die gleichen Rituale durchführt wie andere religiöse Institutionen, also z. B. Sonntagsandachten, Eheschließungen, Beisetzungen und Namensgebungszeremonien für neugeborene Kinder.

Dies sind jedoch nicht die einzigen rituell strukturierten Aktivitäten in der Scientology. Das Auditing, die zentrale Form der Ausübung von Scientology, ist eine rituelle Aktivität in dem Sinne, den ein Anthropologe diesem Begriff verleiht: eine hochgradig strukturierte Prozedur, die strengen Regeln unterworfen ist und akribisch wiederholt wird. Auditing wird im wesentlichen als eine Reihe sorgfältig festgelegter Schritte durchgeführt, die vom Stifter der Kirche entwickelt wurden und ohne Abweichung einzuhalten sind. Aus der Sicht der Scientology-Kirche erfordert das Auditing einen präzisen Pfad, einen exakten Weg, um höhere Bewußtseinsebenen zu erreichen. Auditing ist als eine präzise Aktivität definiert, die genau und systematisch aufgebaut ist und exakten Vorgehensweisen folgt:

„Auditing benutzt Prozesse – exakte Abfolgen von Fragen oder Anweisungen, die der Auditor gebraucht, um dem einzelnen zu helfen, Dinge über sich selbst herauszufinden und seinen Zustand zu verbessern. Es gibt Unmengen verschiedener Auditing-Prozesse, und jeder davon steigert die Fähigkeit des einzelnen, einen Teil seines Daseins „ins Gesicht zu sehen“ und damit umzugehen. Wenn das spezifische Ziel eines bestimmten Prozesses erreicht ist, wird der Prozeß beendet, und ein anderer Prozeß kann dann durchgeführt werden, um einen anderen Lebensbereich der Person anzusprechen.

Natürlich könnte man eine unbegrenzte Anzahl von Fragen stellen – die dem einzelnen vielleicht helfen oder nicht. Die Leistung der Dianetik und der Scientology besteht darin, daß L. Ron Hubbard die exakten Fragen und Anweisungen herauskristallisiert hat, die ausnahmslos zu Verbesserungen führen.“ (Was ist Scientology? 1993, 156)

Es läßt sich also festhalten, daß Auditing ein exaktes Ritual ist und daß die wiederholte Teilnahme an diesem Ritus eine Voraussetzung dafür ist, daß jemand als Scientologe betrachtet werden kann.

iv.iii. Unmittelbare Erfahrung der höchsten Wirklichkeit

Es wurde die These aufgestellt, daß die meisten traditionellen Religionen die Erwartung hegen, ihre Anhänger würden an irgendeinem Punkt zu einer mehr oder weniger unmittelbaren Erfahrung der höchsten Wirklichkeit gelangen. Diese Dimension der Religiosität hängt mit den essentiellen Definitionen des Religionsbegriffs zusammen, und wir sind bei der Untersuchung der essentiellen Definitionen des Religionsbegriffs bereits darauf eingegangen. Wir haben daher schon erwähnt, daß religiöse Erfahrungen von ungewöhnlicher oder nicht alltäglicher Art in der Scientology eine zentrale Stellung einnehmen. Wie bei anderen Religionen werden solche Erfahrungen gemäß der Lehre der Religion gefördert und interpretiert und auch als Beweis für die Richtigkeit der kosmischen Vision der Gruppierung gewertet.

Scientology stellt sich als abgestufter, eindeutig definierter und verläßlicher Weg zur Verbesserung des Bewußtseins dar, indem der einzelne aus einem Zustand spiritueller Blindheit in das Glück des spirituellen Daseins geführt wird. Sie verspricht ihren Anhängern, daß dieses erhöhte Bewußtsein sie letztlich in die Lage versetzen wird, sich ihrer eigenen Unsterblichkeit bewußt zu werden, völlige Freiheit und Allwissenheit zu erreichen und die Bedeutung des Lebens, des Todes und des Universums unmittelbar zu verstehen.

Das erklärte Ziel der Scientology besteht darin, die gänzliche und vollständige Wiederherstellung der Fähigkeiten zuwege zu bringen, die dem einzelnen als unsterblichem geistigen Wesen von Natur aus zu eigen sind. Diese Fähigkeiten würden ihn in voller Bewußtheit zur Ursache über Materie, Energie, Raum, Zeit, Denken und Leben machen. Indem der einzelne diesen Zustand erreicht, wäre er zu unmittelbarer Erkenntnis des Unendlichen befähigt:

„Auf der Stufe des Operating Thetan hat man es mit der eigenen Unsterblichkeit des Individuums als geistiges Wesen zu tun. Man hat es mit dem Thetan selbst in seiner Beziehung zur Ewigkeit zu tun; nicht zu der Ewigkeit, die hinter ihm liegt, sondern zu der Ewigkeit, die er vor sich hat.“ (Was ist Scientology? 1993, 222)

Wir können somit festhalten, daß die Scientology-Kirche die Erwartung hegt, daß ihre Anhänger durch die Teilnahme an den Formen der Ausübung des Scientology-Glaubens und durch die Teilnahme an der Ausbildung in der kirchlichen Lehre schrittweise zu einer Verbesserung ihres Bewußtseins gelangen, die letztlich zur unmittelbaren Erfahrung der höchsten Wirklichkeit führt.

iv.iv. Religiöse Kenntnisse

Die analytischen Definitionen des Religionsbegriffs gehen davon aus, daß religiöse Institutionen von ihren Anhängern erwarten, ein Mindestmaß an Kenntnissen in den Grundsätzen ihres Glaubens sowie in dessen Riten, Schriften und Traditionen zu besitzen. Im Hinblick auf diese Erwartung ist festzustellen, daß die Ausübung der Scientology zu gleichen Teilen aus Auditing und Ausbildung in der Lehre besteht. Das von ihren Anhängern erwartete Engagement schließt ein, daß sie sich Kenntnisse in den wesentlichen Grundsätzen der Lehre erwerben. Die Scientology-Kirche erklärt hierzu:

„Durch Auditing wird man frei. Diese Freiheit muß durch das Wissen untermauert werden, wie man frei bleibt. Scientology enthält – in ihren Axiomen – den Aufbau des reaktiven Verstandes, und sie enthält auch die Disziplin und das Know-how, die erforderlich sind, um mit den Gesetzen des Lebens umzugehen und sie zu kontrollieren. Die Ausübung der Scientology besteht also zu gleichen Teilen aus Auditing und aus der Ausbildung in Scientology-Prinzipien, was die Technologie der Anwendung dieser Prinzipien einschließt. Die Kenntnis der Mechanismen, aufgrund derer geistige Freiheit verlorengehen kann, ist eine Freiheit an sich und entzieht einen dem Einfluß dieser Mechanismen. Auditing läßt einen erkennen, wie etwas geschehen ist, und durch Ausbildung erfährt man, warum.“ (Was ist Scientology? 1993, 164)

Es läßt sich somit festhalten, daß, wie in den meisten religiösen Traditionen, die Vermittlung der Lehren der Bewegung von der Scientology-Kirche als wünschenswert erachtet wird. Die selbige Doktrin sichert im übrigen die Aneignung religiöser Kenntnisse durch die symbolische Belohnung, die dem Strebsamen zuteil wird: Wer zur Kenntnis ihrer Prinzipien gelangt, wird demnach die Gesetzmäßigkeiten des Lebens im Griff haben und gegen die Gefahren, die seine geistige Freiheit bedrohen, gefeit sein.

iv.v. Auswirkungen im täglichen Leben

Wie verschiedentlich aufgezeigt worden ist, hegen die meisten religiösen Institutionen die Erwartung, daß ihre religiösen Glaubensinhalte, die Teilnahme an Ritualen, religiöse Erfahrungen und die Kenntnis der wesentlichen Lehrsätze Auswirkungen im täglichen Leben ihrer Anhänger zeitigen werden. Wie unter Bezugnahme auf die funktionalen Definitionen des Religionsbegriffs erläutert wurde, geht die Scientology davon aus, daß ihre Anhänger sich durch die Ausübung ihres Glaubens und durch die Ausbildung in ihrer Lehre von seelisch-körperlichem Leid oder irrationalen Sorgen befreien werden. Im Rahmen der Ergebnisse wird auch erwartet, daß sie gelassener werden, besser ins Gleichgewicht kommen, tatkräftiger und in der Kommunikation geschickter werden, ihre Beziehungen zu anderen verbessern und lebendiger gestalten, ihre persönlichen Ziele erreichen, ihre Zweifel und Hemmungen ablegen und Selbstvertrauen erreichen, Freude empfinden und klar erkennen können, wie man glücklich wird.

Als eine weitere Veränderung erwartet die Scientology-Kirche, daß ihre Anhänger anderen Menschen helfen werden, Zustände zu verändern, die sie zu verbessern wünschen. Die Anhänger der Scientology werden daher dringend aufgefordert, sich zum Auditor ausbilden zu lassen:

„Da es offensichtlich ist, daß immer nur der einzelne Mensch erlöst werden kann, besteht ein großer Bedarf an Auditoren. Im Gegensatz zu Religionen mit gemeinschaftlicher Andacht erfolgt diese Erlösung in der Scientology letztlich durch die Zweiergruppe der Zusammenarbeit zwischen Auditor und „Preclear“. Viele Scientologen lassen sich zum Auditor ausbilden, und jeder, der seinem Mitmenschen helfen will, kann das gleiche tun. Nicht weniger wichtig ist aber, daß man zu größerer Fähigkeit gelangen kann, das Leben im Griff zu haben, als man je für möglich hielt. Es gibt kein sinnvolleres Ziel, als seinen Mitmenschen zu helfen, und keinen besseren Weg zur Verwirklichung dieses Ziels, als Auditor zu werden. Auditoren wenden das Gelernte an, um anderen durch Auditing zu helfen und um Zustände zu verändern, wo auch immer sie feststellen, daß Zustände der Verbesserung bedürfen.

Das ist die Mission des ausgebildeten Scientologen, und auf sein Verstehen, sein Mitgefühl und sein Können kommt es an, wenn die Träume von einer besseren Welt verwirklicht werden sollen.“ (Scientology-Kirche 1993, 169)

Somit läßt sich festhalten, daß die Scientology-Kirche wie die meisten religiösen Institutionen die Erwartung hegt, daß die Übereinstimmung mit ihren Glaubensinhalten, die Teilnahme an ihren Ritualen, die unmittelbare Erfahrung der höchsten Wirklichkeit und die Kenntnis der wesentlichen Grundsätze der Lehre Auswirkungen im täglichen Leben ihrer Anhänger zeitigen werde. Die Auswirkungen umfassen u. a. eine Verbesserung der Fähigkeit, das eigene Leben in den Griff zu bekommen, verbesserte persönliche Fähigkeiten und erhöhte Geneigtheit und Befähigung, anderen Menschen zu helfen.

Zusammenfassend läßt sich festhalten: Die Scientology-Kirche erwartet von ihren Anhängern, daß sie religiöse Menschen im Sinne der analytischen Definitionen des Religionsbegriffs sind. Konkret bedeutet dies, daß sie einen bestimmten Rahmen bereitstellt, so daß ihre Anhänger an ihren wesentlichen Glaubensinhalten teilhaben können, und die Erwartung hegt, daß die Teilnehmer letztlich zur unmittelbaren Erfahrung der höchsten Wirklichkeit gelangen, indem sie sich Kenntnisse in den Grundsätzen ihres Glaubens erwerben und Auswirkungen in ihrem täglichen Leben erfahren. Somit ist die Scientology-Kirche nach den analytischen Definitionen des Religionsbegriffs eine religiöse Institution, da ihre Erwartungen für ihre Anhänger den Erwartungen entsprechen, die solche Institutionen an religiöse Menschen stellen.

v. SCIENTOLOGY UNTER DEM ASPEKT DER EMISCHEN DEFINITIONEN DES RELIGIONSBEGRIFFS

Der „emische“ Ansatz in der Anthropologie ist derjenige, der sich der Einstufung von Ideen der Teilnehmer an einer gegebenen Kultur widmet. Im Gegensatz hierzu steht der „etische“ Ansatz, der sich aus den begrifflichen Kategorien einer der Theorien der Sozialwissenschaften herleitet. Wir haben bislang Definitionen des Religionsbegriffes verwendet, die vom theoretischen Gesichtspunkt her aufgestellt sind, das heißt, aus dem Blickwinkel von Sozialwissenschaftlern, die sich an der gegenwärtigen Auseinandersetzung darüber beteiligen, was eigentlich eine Religion ausmacht und welche Charakteristika sie aufweist. Im vorliegenden Abschnitt wollen wir uns nun mit dem emischen Blickwinkel der Teilnehmer an der Gesellschaft selbst befassen.

Um die Frage zu beantworten, ob die Scientology unter dem emischen Aspekt eine Religion ist, wäre zu untersuchen, ob sie in den konkreten kulturellen Kontexten, in denen sie tätig ist, als Religion betrachtet wird. Da die Scientology-Kirche eine internationale Institution ist, sind diese Kontexte in zahlreichen Ländern zu finden. Weil es sich um komplexe Gesellschaften handelt, sind zahlreiche Untergruppen einzubeziehen: unter anderen haben sowohl die Scientologen selbst als auch staatliche Institutionen sowie Experten, die sich mit religionsbezogenen Themen auseinandersetzen, öffentlich zu diesem Thema Stellung bezogen.

Erstens einmal läßt sich festhalten, daß Scientologen selbst in ihren Schriften und öffentlichen Dokumenten Scientology als eine Religion darstellen (siehe zum Beispiel Was ist Scientology? 1993, 1, 7, 141, 147; Erklärung von LRH Book Compilations in Was ist Scientology? 1994, III).

Was staatliche Institutionen anbelangt, wurde Scientology unter dem rechtlichen Aspekt und hinsichtlich der Steuerbefreiung in den Ländern, in denen sie ausgeübt wird, als Religion eingestuft. Es haben u. a. folgende Behörden und Gerichte ausdrücklich erklärt, daß Scientology eine Religion ist:

Behörden der Exekutive:

Bayerisches Kultusministerium, Deutschland, 1973; US-Außenministerium, 1974; Sozialversicherungsbehörde von Angers, Frankreich, 1985; Nationale Einwanderungs- und Einbürgerungsbehörde, USA, 1986.

Steuerbehörden:

Tax Department of Florida, USA, 1974; Australian Tax Office, 1978; California Franchise Tax Board, 1981; Department of Taxes und Customs of Canada, 1982; Caisse primaire d´assurance maladie in Pau, Frankreich, 1987; Körperschaftssteuerinspektorat Amsterdam, Niederlande, 1988; Utah Tax Commission, USA, 1988; New York City Tax Commission, USA, 1988; Internal Revenue Service of the United States, 1993; California Employment Development Department, USA, 1994.

Judikative:

Appeals Court of Washington, D.C., USA, 1969; Court of the District of Columbia, USA, 1971; Court of St. Louis, Missouri, USA, 1972; Australian Court of Perth, Australien, 1970; Amtsgericht Stuttgart, 1976; Court d´Appelle Paris, 1980; Appeals Court of the State of Oregon, 1982; District Court of the United States in Washington, 1983; Superior Court of Massachusetts, 1983; Attorney Generals’ Office of Australia, 1973; High Court of Australia, 1983; District Court of Central California, USA, 1984; Appeals Court of Vancouver, 1984; Amtsgericht Stuttgart, 1985; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof München, 1985; Gericht in Padua, Italien, 1985; Gericht in Bologna, Italien, 1986; Landgericht Hamburg, 1988; Verwaltungsgericht Berlin, 1988; Landgericht Frankfurt, 1989; Verwaltungsgericht München, 1989; Amtsgericht Hannover, 1990; Steuergericht von Monza, Italien, 1990; Steuergericht Lecco, Italien, 1991; Steuergericht Mailand, Italien, 1991; Landgericht Frankfurt, 1992; Gericht in New York, 1994; Steuergericht Bergamo, Italien, 1994; Bezirksgericht Zürich, 1994; Kassationshof Rom, 1995.

Und schließlich wird Scientology in Studien von Sozialwissenschaftlern gewöhnlich als Religion bezeichnet, indem sie sie in die wachsende Gruppe der neuen religiösen Bewegungen einreihen.

Eine der ersten Studien über Scientology, ein Artikel von Harriet Whitehead in dem Buch Religious Movements in Contemporary America, sieht Scientology als Teil der „wachsenden Ansammlung religiöser Bewegungen, die völlig außerhalb der jüdisch-christlichen Tradition stehen“. (1974, 547)

In ähnlicher Weise weist die Monographie von Roy Wallis, „The Road to Total Freedom: a Sociological Analysis of Scientology“ (1977), worin die historische Entwicklung und die lehrinhaltlichen und organisatorischen Wandlungen analysiert werden, die während des Übergangs von der Dianetik zur Scientology auftraten, dem Studienobjekt eindeutig einen Platz innerhalb der neuen Religionsgruppen zu. Wallis betrachtet Scientology als eine Religion, die für den religiösen Markt der zeitgenössischen westlichen Gesellschaft besonders gut angepaßt ist – wie Wilson Jahre später ebenfalls erklärt. Die Betonung der Vorteile, die den Mitgliedern aus der Ausübung ihrer Religion in der säkularen Welt erwachsen werden, der Einsatz einer ausgeprägten Rhetorik und einer bürokratisch und rational aufgebauten Organisation spiegeln zeitgenössische westliche Werte wider, da „die Rationalisierung des Lebens in der Welt die Institutionen, durch die der Mensch zur Erlösung gelangt, zum Rationalismus geführt hat“. (1976, 246)

Frank Flinn hat in seiner Abhandlung „Scientology as Technological-Buddhism“, die in dem Band Alternatives to American Mainline Churches abgedruckt ist, nachdrücklich aufgezeigt, daß Scientology „die interessanteste der neuen religiösen Bewegungen“ ist (1983, 89), da sie „zahlreiche ausgeprägte Ähnlichkeiten mit dem Buddhismus aufweist“ (93).

In einem Kapitel seines 1990 erschienen Buches The Social Dimensions of Sectarianism erklärt Bryan Wilson, Scientology sei eine „säkularisierte Religion“. Er zeigt sodann, daß sie einer Liste von 20 Merkmalen entspricht, die für Religionen gewöhnlich kennzeichnend sind, und äußert die Ansicht, daß „Scientology in der Tat als Religion betrachtet werden muß, und zwar unter dem Aspekt der metaphysischen Lehren, die sie erörtert (nicht weil sie ihre Organisation als eine Kirche bezeichnet), aber sie ist eine Religion, die viele der vorherrschenden Aspekte der heutigen Gesellschaft reflektiert“ (1990, 288). Er beschließt seine Analyse mit den Worten: „Sollte man einen Entwurf für eine moderne Religion liefern, erschiene Scientology vielleicht unpassend in der säkularisierten Welt, in der sie tätig ist – und aus der sie den Großteil ihrer organisierten Struktur und ihrer therapeutischen Hauptanliegen bezieht.“ (1990: 288)

In einigen der bedeutendsten Bücher, die sich dem Studium neuer religiöser Bewegungen widmen, ist Scientology unter die untersuchten Gruppen einbezogen: New Religious Movements: a Practical Einführung von Professor Eileen Barker (1992) und sowohl die Encyclopedia of American Religions als auch das Encyclopedic Handbook of Cults in America von J. Gordon Melton (1992). Zusammen mit anderen neuen religiösen Gruppen wird sie auch in folgenden Werken besprochen: Cult Controversies: Societal Responses to the New Religious Movements von James Beckford (1985); Cults, Converts und Charisma: the Sociology of New Religious Movements von Thomas Robbins (1991) und L’Europe delle Nuove Religioni von Massimo Introvigne und Jean François Mayer (1993).

Zusammenfassend können wir aus empirischer Sicht festhalten, daß Scientology in den kulturellen Kontexten ihrer Aktivitäten als Religion eingestuft worden ist, und zwar sowohl in den Erklärungen und Entscheidungen staatlicher Organe als auch durch Mitglieder der Scientology-Kirche selbst und durch Sozialwissenschaftler, die Studien über neue religiöse Bewegungen durchführten.

vi. SCHLUSSFOLGERUNGEN

Als Ergebnis der hier vorgenommenen Analyse gelangen wir zu dem Schluß, daß Scientology unter sämtlichen Gesichtspunkten, die in die heutige Diskussion des Religionsbegriffs in den Sozialwissenschaften einbezogen sind, eine Religion ist. All diese Gesichtspunkte wurden in der vorliegenden Studie untersucht.

Wie bei den meisten Religionen, die weltweit die „religiöse Gärung“ der letzten Jahrzehnte ausmachen (die Religionen östlichen Ursprungs, die Pfingstbewegung, die afroamerikanischen Religionen und andere), nehmen religiöse Erfahrungen, die ungewöhnlich und nicht alltäglich sind, in der Scientology eine zentrale Stellung ein. Wie bei den anderen Religionen sind solche Erfahrungen auch in der Scientology zum einen durch die Lehre motiviert, geregelt und interpretiert, während sie zum anderen als Beweis für die Richtigkeit der von der Gruppierung vertretenen kosmischen Vision gewertet werden. Somit erfüllt Scientology die essentiellen Definitionen des Religionsbegriffs, die in den Sozialwissenschaften derzeit gebräuchlich sind.

Scientology entspricht auch dem Religionsbegriff, wie er derzeit aus funktionalistischer Perspektive definiert wird, indem sie ein System von Glaubenselementen darstellt, mittels dessen eine Gruppe von Menschen fundamentalen Problemen wie Ungerechtigkeit, Leid und der Suche nach dem Sinn des Lebens Bedeutung verleiht, und zwar in Kombination mit Praktiken, mit deren Hilfe solchen Problemen begegnet wird, um sie nach Möglichkeit zu überwinden.

Wie die meisten Religionen nimmt Scientology für sich in Anspruch, das Geheimnis des Lebens enthüllt zu haben. Sie legt keine erklärtermaßen willkürliche Bedeutung für das menschliche Dasein vor, sondern behauptet, seine wahre Bedeutung entdeckt zu haben. Sie unterscheidet sich damit von humanistischen Perspektiven: Es werden von ihr keine Werte und ethischen Normen aufgestellt oder vorgeschlagen, um dem menschlichen Leben einen Sinn zu geben. Sie erhebt vielmehr den Anspruch, zu wissen, was der Mensch wirklich ist und worin der Sinn seines Lebens liegt. Gleichzeitig – und obwohl sie ein Vokabular gebraucht, das dem der Wissenschaften ähnelt – läßt sie sich von jenen eindeutig unterscheiden, da sie nicht ausschließlich auf eine funktionale Beschreibung von Vorgängen abzielt, keine Fragestellungen formuliert und auch keine Hypothesen zu ihrer etwaigen Widerlegung und Modifizierung anbietet. Sie erhebt vielmehr den Anspruch, die wahren Ursachen entdeckt zu haben, und erbietet sich, ihr Wissen mitzuteilen. Scientology entspricht somit den vergleichenden Definitionen des Religionsbegriffs, die ihre Abgrenzung von den humanistischen Perspektiven bestätigen.

Die Scientology-Kirche erwartet von ihren Anhängern, daß sie religiöse Menschen im Sinne der analytischen Definitionen des Religionsbegriffs werden. Konkret bedeutet dies, daß sie ein wechselseitig verknüpftes System von Glaubensinhalten bereitstellt, so daß ihre Anhänger die wesentlichen Lehren für sich annehmen können, und die Erwartung hegt, daß sie an rituellen Aktivitäten teilnehmen und hierdurch zur unmittelbaren Erfahrung der höchsten Wirklichkeit gelangen, daß sie sich Kenntnisse in den Grundsätzen ihres Glaubens erwerben und Ergebnisse in ihrem täglichen Leben erfahren. Somit ist die Scientology-Kirche nach den analytischen Definitionen des Religionsbegriffs eine religiöse Institution, da ihre Erwartungen für ihre Anhänger den Erwartungen entsprechen, die solche Institutionen an religiöse Menschen stellen.

Wenn wir uns schließlich des emischen Blickwinkels bedienen, ist festzustellen, daß Scientology in den meisten kulturellen Kontexten ihrer Aktivitäten als Religion betrachtet wird, und zwar sowohl in den Entscheidungen staatlicher Organe und den Verlautbarungen der Mitglieder der Scientology-Kirche selbst, wie auch in den Feststellungen von Sozialwissenschaftlern, die Studien über neue religiöse Bewegungen durchgeführt haben.

In der vorliegenden Abhandlung wurde untersucht, inwieweit Scientology den modernen Definitionen des Religionsbegriffs im Bereich der Sozialwissenschaften entspricht. Scientology scheint jedoch auch den Definitionen des Religionsbegriffs zu entsprechen, die sowohl in der Anthropologie als auch in der Soziologie als „klassisch“ gelten. Auf dem Gebiet der Soziologie hat Max Weber, der als der „Vater“ der Religionssoziologie angesehen wird, es vorgezogen, den Terminus Religion nicht zu definieren (Weber 1964, 1). Er ordnete statt dessen die bekannten Religionen nach einer Vielzahl von Kriterien sehr sorgfältig unter eine große Anzahl verschiedener Typen ein. Scientology scheint einem bestimmten Typ der „Erlösungsreligionen“ zu entsprechen, die als ein Pfad zur Befreiung des geistigen Wesens von der Reinkarnation oder vom Kreislauf der Geburten und Tode dargestellt werden. (Weber 1964, 146) Innerhalb der Erlösungsreligionen wäre Scientology in Anlehnung an die Kriterien von Weber unter denjenigen einzureihen, die folgende Merkmale aufweisen:

* Sie [die betreffende Religion] wurde von einem Propheten begründet, der eine Lehre einführte, mit der die Erlösung der Menschheit ermöglicht werden soll. (nach Weber, 1964, 46)

* Sie besitzt systematisierte Rituale innerhalb einer Gesamtheit umfassender Gesetze, deren Kenntnis eine besondere Ausbildung erfordert. (ebd., 54)

* Sie erklärt, daß die Erlösung durch ein religiöses Streben erreicht werden kann, das auf Selbstvervollkommnung abzielt. (ebd., 156)

* Sie hat ein Verfahren entwickelt, das darauf ausgerichtet ist, die religiöse Weihe der Persönlichkeit zu erreichen. (ebd., 156)

* Sie behauptet, diese Weihe der Persönlichkeit impliziere das Erlangen übermenschlicher Kräfte sowie die Möglichkeit, daß übermenschliche Handlungen vollbracht werden. (ebd., 157)

Daß die Scientology diesem Typ der Erlösungsreligion gemäß Webers Kategorien entspricht, kommt im folgenden Absatz aus dem Buch Was ist Scientology? klar zum Ausdruck:

„Entgegen den Lehren, der Mensch könne sich nicht verbessern und ungefähr siebzig Jahre in einem Körper seien alles, was man zu erwarten hat, gibt es höhere Zustände als die eines sterblichen Menschen. Es gibt den Zustand OT, und er wird von Menschen erreicht. Wie jeden anderen Gewinn in der Scientology erreicht man diesen Zustand auf einem Gradienten … Einige der Wunder des Lebens wurden auf den OT-Stufen zum ersten Mal in der Geschichte vollständig enthüllt. Nicht das geringste dieser Wunder ist bewußte Unsterblichkeit und die Freiheit vom Kreislauf der Geburten und Tode. Der Weg ist zuverlässig, und er ist klar gekennzeichnet. Man braucht nichts weiter zu tun, als seinen Fuß auf die unterste Sprosse der Leiter zu setzen, zum Zustand Clear aufzusteigen und dann weiter hinauf zur Stufe des Operating Thetan zu gehen. Auditing befähigt den einzelnen, die Kluft zwischen dem Homo sapiens mit all seinen Drogen, Schmerzen, Problemen, Verstimmungen und Ängsten auf der einen Seite und höheren Zuständen und der Freiheit als geistiges Wesen auf der anderen Seite zu überwinden.

Solche Zustände können nur durch Auditing erreicht werden. Aber es gibt sie und sie sind erreichbar, und sie stellen das ursprüngliche Potential eines Wesens vollständig wieder her.“ (Was ist Scientology? 1993, 222-223)

In der Anthropologie gilt als klassischste Definition des Religionsbegriffs die Definition von Sir Edward Tylor, der Religion als „den Glauben an geistige Wesen“ beschreibt (Evans-Pritchard 1976, 14-15). Im Hinblick auf diesen Religionsbegriff sei nochmals auf den zentralen Glaubenssatz der Scientology verwiesen, daß der Mensch ein Thetan ist, also ein geistiges Wesen. Das Handbuch der Scientology teilt seinen Lesern hierzu folgendes mit:

„Sie sind ein Thetan, ein geistiges Wesen. Nicht Ihre Augen, nicht Ihr Gehirn, sondern Sie. Sie haben keinen Thetan, etwas, das Sie von sich selbst getrennt halten; Sie sind ein Thetan. Sie würden nicht sagen: ‚mein Thetan‘; Sie würden ‚ich‘ sagen. Wenngleich vieles, was in der Scientology als wahr betrachtet wird, an mancherlei bedeutende philosophische Lehre anklingen mag, ist das, was die Scientology anbietet, völlig neu: eine exakte Route, mit deren Hilfe jeder die Wahrheit und Einfachheit seines geistigen Selbst zurückgewinnen kann …“ (Das Scientology-Handbuch 1994: III)

Alejandro Frigerio

Download (PDF, 168 KB) 19 Seiten

Scientology und zeitgenössische Definitionen des Religionsbegriffs in den Sozialwissenschaften

In englisch:

Scientology and Contemporary Definitions of Religion in the Social Sciences

In französisch:

La Scientologie : La Scientologie et les définitions contemporaines de la religion en sciences sociales

In spanisch:

La Scientology: definiciones actuales de la religión desde las ciencias sociales

In niederländisch:

Scientology en moderne definities van religie in de sociale

wetenschappen

In hebräisch:

Scientology und zeitgenössische Definitionen des Religionsbegriffs in den Sozialwissenschaften (Hebräisch)

In japanisch:

Scientology und zeitgenössische Definitionen des Religionsbegriffs in den Sozialwissenschaften (Japanisch)

In russisch:

??????????? – ? ??????????? ??????????? ??????? ? ???????????? ??????

In dänisch:

Scientologi og nutidige definitioner af religion i samfundsvidenskaberne

In schwedisch:

Scientologi och nutida definitioner av religion i samhällsvetenskaperna

In ungarisch:

Szcientológia – és korabeli vallásdefiníciók a társadalomtudományokban

In griechisch:

???????????? – ? ???????????? ??? ?? ????????? ??????? ??? ????????? ???? ?????????? ?????????

In italiensch:

Scientology – e le Definizioni Contemporanee di Religione nelle Scienze Sociali